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Verrückte Lust.

Verrückte Lust.

Titel: Verrückte Lust.
Autoren: Henry Miller
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Mund, die Wangen, die Augen, auf die Stelle an ihrem Hals, wo die Ader leicht pochte. Er hatte einen fettigen Geschmack auf den Lippen.
     Hildred befreite sich aus der Umarmung, und als sie die Treppe hinunterrannte, rief sie zurück: »Reiß dich doch zusammen!«

    Mehr als einmal sprang er in dieser Nacht auf, warf das schwere Buch, das er las, zur Seite und rannte zur U-BahnStation. Er stand unter den Stahlträgern und sah zu, wie ein Zug nach dem anderen einfuhr. Er ging hinüber zum Platz an der Brücke und wartete noch ein bißchen. Taxis fuhren melancholisch vorbei. Taxis voller Betrunkener. Taxis voller Ganoven. Keine Hildred…
     Er ging heim und blieb die ganze Nacht auf. Am Morgen erfuhr er, daß sie angerufen hatte.
     »Was hat sie gesagt?« fragte er.
     »Sie wollte mit Ihnen sprechen.«
     »Hat sie keine Nachricht hinterlassen?«
     »Nein, sie wollte bloß wissen, ob Sie zu Hause sind.«
     »Das war alles?«
     »Sie wollte mit Ihnen sprechen.«
     Als Grund für ihr Ausbleiben gab Hildred an, ihre Mutter sei krank geworden.
     Na gut.
     Erst ein paar Tage später fiel ihm auf, daß ihre Geschichte nicht stimmen konnte. Als er kurz entschlossen ihre Mutter anrief, erfuhr er zu seiner Verwunderung, daß Mutter und Tochter sich seit über einem Jahr nicht gesehen hatten und daß die Mutter nicht einmal von der Heirat ihrer Tochter wußte.
     Ein paar Tage später, als sie nachts im Bett lagen und einander in den Armen hielten, wiederholte er wortwörtlich das Gespräch, das er mit ihrer Mutter geführt hatte. Hildred begann zu lachen, als wollte ihr das Herz zerspringen.
     »Das hat meine Mutter wirklich gesagt?« Wieder lachte sie schallend. »Und du hast es ihr geglaubt!« Noch mehr Gelächter, bis zur Atemnot. Dann war sie plötzlich, schlagartig, erschöpft. Sie zitterte und war schweißnaß. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Gurgeln heraus. Er lag reglos da und drückte sie an sich.
     Als sie ganz still geworden war, packte er sie unvermittelt an den Schultern und schüttelte sie. »Warum sollte deine Mutter mich anlügen?« wollte er wissen. »Warum? Warum?«
     Sie begann wieder zu lachen, als wollte ihr das Herz zerspringen.

    2

    Ein paar Tage darauf wurde er abends ans Telephon gerufen. Es war Hildred. Vanya war krank geworden, und sie hielt es für besser, bei ihr zu bleiben. »Macht es dir etwas aus, wenn ich nicht nach Hause komme?« fragte sie.
     »Ja, es macht mir was aus«, sagte er. »Aber tu, was du für richtig hältst.«
     Darauf folgte ein Schweigen. Er schnappte die Fetzen eines Gesprächs zwischen zwei Vermittlerinnen auf, die am Abend zuvor durch diverse Bars gezogen waren. Als er Hildreds Stimme wieder hörte, war darin ein seltsames Zittern.
     »Ich komme«, sagte sie hastig. »Ich komme gleich nach Hause…«
     »Hildred!« rief er. »Hör zu… hör zu!«
     Keine Antwort.
     Ein Summen in den Ohren vermischte sich mit der Verwirrung in seinem Kopf.
     Gerade als er aufhängen wollte, hörte er ein leises, fragendes »Ja-aa?«
     »Hildred, hör zu… Bleib ruhig bei ihr… Mach dir um mich keine Sorgen.«
     »Bist du sicher, Schatz? Bist du sicher, daß es dir nichts ausmacht?«
     »Aber sicher! Du kennst mich doch… Ich bin ein großer Clown. Mach dir keine Gedanken. Es ist schon in Ordnung.« Bevor er auflegte, sagte er noch: »Viel Spaß!«
     Als er wieder ins Zimmer trat, fühlte er sich, als hätte er ein Loch im Bauch. »Ich wußte es!« murmelte er. »Ich wußte, daß so etwas passieren würde!«
     Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Alle paar Minuten wachte er auf und starrte auf das leere Kopfkissen neben sich. Gegen Morgen fiel er in einen unruhigen Schlaf. Träume tauchten auf wie in einem Kaleidoskop; sie kamen und gingen und dauerten nicht länger als ein Pulsschlag. Einige träumte er immer wieder, besonders einen, in dem er sie zusammengerollt auf einem Roßhaar-Sofa liegen sah. Ihr Gesicht löste sich auf. Wie konnte ein Mensch so ruhig schlafen, wenn sich sein Gesicht auflöste? Doch dann merkte er, daß ihr Schlaf nur eine Art tiefer Betäubung war, und damit war alles wieder in Ordnung… In einem anderen Traum lebte er zusammen mit einem alten Juden, der den ganzen Tag in Pantoffeln umherschlurfte. Er hatte einen Patriarchenbart, der in majestätischen Wellen über seine eingefallene Brust fiel; unter dem Bart waren Juwelen, ganz viele, angeordnet wie die auf der Brustplatte des Hohepriesters. Als das Licht auf die Juwelen
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