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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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entgeistert an: »Aber gerade darum geht es doch, dass sie echt sind. Das ist das Entscheidende.«
    Die Darwin-Ausstellung legte größten Wert auf Authentizität: Zu sehen waren unter anderem das originale Vergrößerungsglas, das Darwin bei seinen Reisen benutzte, und sein Notizbuch, in das er die berühmten Sätze eintrug, mit denen er erstmalig seine Evolutionstheorie erläuterte. Und doch war in der Reaktion der Kinder auf die reglosen, aber lebendigen Schildkröten kein Platz für das Konzept des Originalen. Was ich im Museum zu hören bekam, erinnerte mich an Rebeccas Reaktion als Siebenjährige bei einer Bootsfahrt
im postkartenblauen Mittelmeer. Damals bereits eine Expertin in den simulierten Welten der Aquarien, sah sie etwas im Wasser, deutete darauf und rief aufgeregt: »Guck mal, Mama, eine Qualle! Sie sieht so echt aus!« Als ich die Geschichte einem Vizepräsidenten der Disney Corporation erzählte, fand er Rebeccas Ausruf nicht überraschend. Als in Orlando Animal Kingdom eröffnet wurde, in dem es echte – also lebende – Tiere zu bestaunen gab, beklagten die ersten Besucher, dass die Tiere nicht so real aussähen wie die computeranimierten »Geschöpfe« in anderen Teilen von Disneyworld. Die Roboterkrokodile schlugen mit ihren Schwänzen und verdrehten die Augen – und zeigten damit archetypisches »Krokodil«-Verhalten. Die echten Krokodile blieben, ähnlich wie die Galápagos-Schildkröten, weitgehend unbeachtet.
    Ich glaube, in unserer Simulationskultur ist der Gedanke an Authentizität für uns das, was Sex für Menschen des Viktorianischen Zeitalters bedeutete – Bedrohung und Obsession, Tabu und Faszination. Der Gedanke war mir schon vor etlichen Jahren gekommen, aber dort im Museum empfand ich die Ansichten der Kinder als sonderbar beunruhigend. In diesem Kontext schien Lebendigkeit für sie keinen wirklichen Wert zu besitzen. Lebendigkeit ist nur dann nützlich, wenn sie für einen bestimmten Zweck vonnöten ist. Darwins endlose Reihe immer schönerer und vollkommenerer Wesen war für sich selbst genommen nicht mehr ausreichend. Ich habe den Kindern eine zweite Frage gestellt. »Wenn es in dieser Ausstellung Roboter statt lebendiger Schildkröten zu sähen gäbe, fändet ihr dann, man müsste den Besuchern verraten, dass die Schildkröten nicht echt sind?« Eigentlich nicht, sagten die meisten Kinder. Angeben, ob etwas lebendig ist, müsse man nur, wenn dieses Wissen unbedingt nötig sei – wenn es einem Zweck diene. Aber was ist der Sinn und Zweck lebendiger Wesen?
    Nur ein Jahr später war ich zutiefst schockiert, als ich mit der
Vorstellung konfrontiert wurde, dass dieser Sinn und Zweck offenbar stärker zur Disposition steht, als ich es mir je hätte träumen lassen. Ich erhielt einen Anruf eines Scientific-American -Reporters, der mit mir über Roboter und die Zukunft reden wollte. Während des Gesprächs beschuldigte er mich, Ansichten zu vertreten, die mich direkt ins Lager derer hineinkatapultieren würden, die gegen die Eheschließung von Homosexuellen sind. Ich war perplex, denn erstens bin ich nicht dagegen und zweitens beruhte sein Vorwurf auf keinem Einwand von mir, den ich hinsichtlich intimer Beziehungen oder der Ehe von Menschen gemacht hätte. Der Reporter war aufgebracht, weil ich mich gegen Intimbeziehungen und Ehen von Menschen mit Robotern ausgesprochen hatte!
    Der Journalist hatte mich wegen eines neuen Roboter-Buches von David Levy angerufen, einem britischen Unternehmer und Computerwissenschaftler. 1968 wettete Levy, ein internationaler Schachgroßmeister, mit vier KI-Experten, dass ihn in den nächsten zehn Jahren kein Computerprogramm im Schach besiegen würde. Levy gewann die Wette. Die Gewinnsumme war bescheiden, 1250 britische Pfund, aber die KI-Gemeinde hatte einen herben Dämpfer erhalten. Sie hatte mit ihren Prognosen ein wenig übertrieben. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis Levy gegen ein Computerprogramm verlor, Deep Thought, einer frühen Version des Programms, das in den Neunzigerjahren den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparov besiegte. 3 Heute ist Levy Präsident einer Firma, die »intelligentes« Kinderspielzeug entwickelt. 2009 gewannen Levy und sein Team – zum zweiten Mal – den prestigeträchtigen Loebner Prize, der weithin als Weltmeisterschaft für Sprachsoftware gilt. Bei diesem Wettbewerb war Levys »Chat-bot«-Programm am besten darin, Menschen zu überzeugen, dass sie mit einer Person sprächen und nicht mit einer
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