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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Enger
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Trine geht nicht mehr darauf ein. Sie verschwindet in Richtung ihres Dienstwagens, und ihr Fahrer startet den Motor, noch ehe sie einsteigt.
    Das Blitzlichtgewitter folgt ihnen bis zur nächsten Kurve.
    86
    Henning bleibt noch eine Weile in Jessheim, nachdem Trine abgefahren ist. Er mischt sich unter die Horde, in der eine Debatte die nächste ablöst. Der Refrain von offizieller Seite ist allenthalben der gleiche: Man kann Trine Juul-Osmundsen gar nicht genug loben für ihren Einsatz, das Leben Emilie Blomviks und ihrer Familie gerettet zu haben.
    Gegen sieben Uhr verlässt Henning den Ort des Geschehens. Er erreicht den Zug nach Oslo um halb acht und ist eine gute Stunde später in Grünerløkka.
    Seine Gedanken wandern von Trine zu ihrer Mutter. Er hat sie im Bett zurückgelassen, in tiefem Alkoholrausch, und beschließt nachzuschauen, ob sich an ihrem Zustand etwas geändert hat.
    Der Himmel über Sofienberg ist fast schwarz, als er ihre Wohnungstür aufschließt. Und wieder wird er von einer beunruhigenden Stille empfangen, aber der Rauchgeruch ist intensiv wie eh und je, und auch die Enttäuschung in ihren Augen ist die gleiche, als er das Wohnzimmer betritt.
    »Hallo, Mama«, sagt Henning und versucht sich an einem Lächeln.
    Sie antwortet nicht, kein Hallo oder Guten Abend kommt über ihre Lippen. Derlei Phrasen sind kein Bestandteil von Christine Juuls Vokabular.
    Sie sitzt wie üblich am Küchentisch. Der Aschenbecher vor ihr quillt über, auf dem Rand liegt eine Zigarette, von deren Spitze sich eine blaue, dünne Rauchschnur zur Decke hinaufkräuselt. Das kleine Glas daneben ist fast leer.
    »Du hast das Radio nicht repariert«, sagt sie mürrisch. »Du hast versprochen, das Radio zu reparieren.«
    »Ich weiß, Mama. Ich bin noch nicht dazu gekommen.«
    »Ich will Radio hören.«
    »Ich kümmere mich darum.«
    Seine Mutter nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückt sie dann so energisch aus, dass alte Kippen und Asche über den Aschenbecherrand fallen. »Ich hab so gehofft, es wäre Trine«, sagt sie, kippt die letzten Tropfen hinunter und knallt das Glas auf die Tischplatte.
    Henning sieht seine Mutter lange an, ehe er die Augen schließt und das alles zu ignorieren versucht. Es bringt nichts zu streiten. Aber er ist ihre ständigen Vorwürfe so verdammt leid, dass sie ihm permanent ins Gesicht spuckt, als würde sein bloßer Anblick ihr einen üblen Geschmack auf der Zunge bereiten.
    »Warum sagst du das immer wieder?«, fragt er.
    Christine Juul hebt den Kopf und sieht ihn an.
    »Warum ist es so wichtig für dich, mir immer wieder unter die Nase zu reiben, dass es dir viel lieber wäre, wenn Trine an meiner Stelle kommen würde?«
    Seine Mutter hält seinem Blick stand.
    »Sag es mir«, drängt er sie. »Wie oft kommt sie dich besuchen? Erinnerst du dich überhaupt noch daran, wann sie das letzte Mal hier war?«
    »Ja«, sagt sie. »Daran erinnere ich mich gut. Ich hab es mir aufgeschrieben.«
    Henning schnaubt. »Und warum um alles in der Welt hast du das getan?«
    Seine Mutter sieht ihn an. »Das geht dich nichts an.«
    »Damit du im Kalender blättern und dich erinnern kannst, wann sie hier war? Ist es das?«
    »Pfff.« Sie schnauft verächtlich und wendet den Blick ab.
    »Du bist schlimmer als eine verwöhnte Göre.« Henning ist jetzt nicht mehr zu bremsen. »Hockst Tag und Nacht herum, enttäuscht von allem und jedem und am meisten von mir, könnte man meinen. Du rauchst und trinkst und suhlst dich in Selbstmitleid. Ja, sicher war es schwer, als Papa gestorben ist, aber das war verdammt noch mal nicht meine Schuld.«
    Christine Juul erhebt sich auf wackligen Beinen und klammert sich an die Rückenlehne des Stuhls. Sie reckt den Hals, als wolle sie sich größer machen. Ihr alkoholisierter Blick ist plötzlich mit einer Schärfe und mit einem Zorn geladen, den Henning noch nie an ihr gesehen hat.
    »O doch«, presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Henning steht wie angewurzelt da und sieht sie unverwandt an. Seine Zunge fühlt sich plötzlich dick an, und die Worte, die er am Ende herausbringt, sind nicht mehr als ein halb ersticktes Flüstern.
    »Was hast du gesagt?«
    »Du hast mich genau verstanden«, bellt sie, ohne auch nur einen Muskel im Gesicht zu bewegen.
    Henning spürt, wie ihm eine Hitzewelle ins Gesicht schießt. Er steht höchstens einen Meter von seiner Mutter entfernt, die bitteren Worte hängen zwischen ihnen in der Luft, und der Atem aus ihrem Mund
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