Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
sie wollten. Und die winzige Nasszelle bot ihm eine Intimsphäre, von der er fast vergessen hatte, dass es so etwas gab. Vance löschte das Licht, ließ aber den Fernseher an, damit er nicht in völliger Dunkelheit hantieren musste. Er breitete eine Zeitung auf dem Tisch aus und schnitt dann sorgfältig mit einer Rasierklinge sein Haar ab. Als es kurz genug war, fuhr er sich mit dem elektrischen Rasierapparat über den Schädel, vor und zurück, bis er so glatt wie möglich war. Wegen seiner vom Aufenthalt im Knast sehr blassen Haut würde man keinen Unterschied zwischen der Farbe der frisch geschorenen Kopfhaut und seines Gesichts erkennen. Als Nächstes nahm er seinen Vollbart ab, den er sich in den letzten Wochen hatte wachsen lassen, und ließ nur einen Kinnbart und einen Schnurrbart stehen. Im Lauf der letzten Jahre hatte er seine Haartracht dramatisch verändert, vom Vollbart zum glattrasierten Gesicht, vom Kinnbart zum Schnauzer, damit niemand es beachten würde, wenn er die letzten entscheidenden Veränderungen vornahm.
    Der wichtigste Teil seiner Verwandlung lag noch vor ihm. Vom Bücherregal über dem Tisch nahm er ein großformatiges Buch herunter, eine limitierte Auflage mit Lithographien moderner russischer Maler. Weder Vance noch der Bewohner, der sonst in dieser Zelle lebte, hatte Interesse an Kunst; was dieses Buch wertvoll machte, war das schwere Papier, das solch dicke Seiten ergab, dass man sie aufschlitzen und dünne Plastikbögen mit Abzieh-Tattoos dazwischen verstecken konnte.
    Die Abziehmotive waren penibel genau nach Fotos hergestellt, die Vance mit seinem eingeschmuggelten Smartphone aufgenommen hatte. Sie imitierten in allen Einzelheiten die aufwendige und geschmacklose Körperkunst auf Armen und Nacken von Jason Collins, dem Mann, der im Moment in Vance’ Bett schlief. Denn Vance war heute Abend nicht in seiner Zelle. Sein Ablenkungsmanöver hatte perfekt funktioniert.
    Ein Foto von Damon Todds Frau, die sich in irgendeinem Nachtclub an Cash Costellos Bruder schmiegte, war die einzige Währung gewesen, die er gebraucht hatte. Vance hatte es wie nebenbei auf den Pingpongtisch fallen lassen, als er abends während der Freizeitphase dort vorbeikam. Wie zu erwarten und geplant, hatte es jemand aufgehoben und sofort die Bedeutung erfasst. Es folgten Pfiffe und höhnische Bemerkungen, und es war unabwendbar, dass Todd ausrastete und sich auf Costello stürzte. Das würde das Ende ihrer Zeit in der therapeutischen Gemeinschaft sein, all das gute Benehmen war durch einen unbezwinglichen Zornesausbruch ausgelöscht. Vance war das egal. Kollateralschäden hatten ihm noch nie etwas ausgemacht.
    Das einzig Wichtige war, dass das Durcheinander lange genug die Aufmerksamkeit der Vollzugsbeamten in Anspruch nahm, damit Vance und Collins sich in die falschen Zellen begeben konnten. Bis sich die Lage beruhigt hatte und die Wärter ihre letzte Runde machten, hatten beide Männer das Licht ausgeschaltet und taten, als schliefen sie fest. Es gab keinen Grund zu bezweifeln, dass jeder da war, wo er hingehörte.
    Vance stand auf und ließ kaltes Wasser ins Waschbecken. Er riss die erste präparierte Seite heraus und löste die zwei Blätter Papier von der Plastikfolie ab. Dann tauchte er die dünne Folie ins Wasser, und als das Tattoo-Motiv sich zu lösen begann, trug er es sorgfältig auf seine Prothese auf. Es dauerte recht lange, war aber bei weitem nicht so schwierig wie das Aufbringen auf den anderen Arm. Ja, diese neuen künstlichen Gliedmaßen waren bemerkenswert. Aber was sie tun konnten, war doch noch weit entfernt von der Feinmotorik eines lebendigen Arms. Und alles hing doch davon ab, dass er jede Einzelheit genau richtig hinbekam.
    Als er fertig war, standen ihm Schweißperlen auf dem Schädel, und feine Rinnsale liefen an seinem Rücken herunter. Er hatte sein Bestes getan. Bei einem gründlichen Vergleich mit Collins wäre es leicht, die echten von den falschen Tattoos zu unterscheiden, aber das würde nicht geschehen, wenn nicht alles schrecklich schiefging. Vance nahm die Nachbildung von Collins’ Brille, die sein Helfer draußen hatte anfertigen lassen, und setzte sie auf. Die Welt schwankte und verschwamm, aber nicht so sehr, dass er nicht damit fertig werden konnte. Die Gläser waren lange nicht so stark wie Collins’ eigene, aber eine flüchtige Überprüfung würde zeigen, dass es kein Fensterglas war. Die Einzelheiten, darauf kam es an.
    Er schloss die Augen und rief sich den Klang von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher