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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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und hatten voreinander keine Geheimnisse, trotzdem war es in den vergangenen Jahren noch nie zu ernsthaften Unstimmigkeiten gekommen.
    Und so verging auch dieser Tag, der für Ruth nicht eben ideal begonnen hatte, wie im Flug. Sie arbeiteten Hand in Hand, ohne Pause und perfekt aufeinander abgestimmt. Jamila war für das Frühstück zuständig, während Ruth die Mise en place für das Mittagessen zubereitete. Um elf kam Susan, die derzeitige studentische Aushilfe im Service, später, wenn der Andrang, der zu Mittag herrschte, abgeebbt war, übernahm das Jamila. Ruth bereitete in der Zeit die Kuchen und kleinen Gebäckteile für den kommenden Tag vor, bis sie schließlich um sieben die Stühle hochstellte, den Laden schloss und den Schlüssel an Kabir, den Putzmann, übergab. Obwohl Ruth ihren Wagen über Nacht nicht im Hof stehen lassen durfte, ignorierte sie das an manchen Abenden geflissentlich und ging die paar Blöcke zu Fuß nach Hause. Es war die einzige Zeit des Tages, die sie draußen verbringen konnte, und so sog sie auch jetzt die feuchte, abgasgeschwängerte Winterluft tief durch die Nase. In ihrem Kopf ging es nach einem arbeitsreichen Tag wie diesem meistens drunter und drüber. Während sie überlegte, was sie am übernächsten Tag auf die Karte setzen sollte, fiel ihr ein, dass sie noch einen Umweg zum Supermarkt machen musste, nicht nur das Shampoo war alle, auch der Kühlschrank war völlig runtergefressen. Nicht einmal eine Flasche Rotwein hatte sie noch zu Hause, und sie hatte leider auch vergessen, sich eine aus dem Bistro mitzunehmen.
    Als Ruth um zehn nach acht völlig erschöpft die Wohnungstür hinter sich zufallen ließ, wurde sie von lautem Gegacker aus der Küche empfangen. Wie es schien, war Annika nicht allein. Eine Horde Teenager war das Letzte, was Ruth heute für einen entspannten Abend brauchte, und so entschied sie, sich mit dem Rotwein, dem Shampoo sowie ein paar Kerzen ungesehen ins Badezimmer zurückzuziehen. Sie würde sich ein heißes Aromabad einlassen und sich danach sofort in ihr Bett kuscheln.
    »Mama, da ist ein Brief für dich«, hielt die Stimme ihrer Tochter sie auf, als sie versuchte, lautlos an der Küche entlangzuschleichen. Ruth seufzte und bog vom Flur in die Küche ab. Als sie in der Tür stand und einen Blick auf die Szenerie warf, kam sie sich mit ihren Strubbelhaaren, der ausgebeulten Hose und dem Sweater vor wie eine Vogelscheuche. Drei Mädchen, perfekt geschminkt, in knappen Tops und engen Jeans, gruppierten sich mit zwei schlaksigen Kerlen, die aussahen, als wären sie einem Deo-Werbespot entsprungen, um den Küchentisch. Auf diesem stand eine Schüssel mit knackigem grünen Salat, kaltes Bier und ein Blech frisch gebackene Pizza.
    »Ich frag dich jetzt nicht, ob du mitessen willst«, sagte Annika mit schlecht verborgenem Stolz auf die eigene Küchenleistung, »du hast doch im Laden schon gegessen. Oder?!«
    Ruth entging der drohende Unterton nicht, der besagte, dass sie sich möglichst schnell atomisieren sollte, um ihrer Tochter weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Obwohl ihr das Wasser im Mund zusammenlief, nickte sie, rang sich ein Lächeln ab und nahm den Umschlag, den Annika ihr hinstreckte.
    »Na, dann lasst’s euch schmecken«, brachte Ruth noch betont munter hervor, bevor sie sich wieder in den Flur zurückzog.
    »Hast du an die Kohle für die Klassenfahrt gedacht?«, rief ihre Tochter ihr hinterher, und Ruth kniff ärgerlich die Augen zusammen. Natürlich nicht.
    »Klar«, antwortete sie, um einer hysterischen Anklage zu entgehen. ›Morgen aber‹, dachte sie bei sich, als sie die Tür des Badezimmers hinter sich verriegelte, das Wasser in die Wanne ließ und sich aus den Klamotten schälte. Den Brief wollte sie nicht öffnen, es war etwas Offizielles, vom Amtsgericht. Bestimmt war sie geblitzt worden und musste den Lappen abgeben. Oder sie hatte beim Ausparken ein Auto gerammt und unwissentlich Fahrerflucht begangen. Was immer es auch war, es war nichts, das ihr jetzt große Freude machen würde, das war Ruth vollkommen klar. Sie goss sich nackt ein Glas Rotwein ein, prüfte mit dem Zeh die Temperatur und stellte sich dann in das kochend heiße Wasser. Ihre Füße kribbelten, aber Ruth schloss die Augen und genoss den wohligen Schauer, den das viel zu heiße Wasser und der erste Schluck Wein bei ihr auslösten. Dann ließ sie sich ganz in die Wanne gleiten und riss doch den Umschlag des Briefes auf. ›Besser jetzt als morgen früh‹, dachte
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