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Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch
Autoren: Brian Freeman
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ausgestreckten Armen. Ein bisschen wie Jesus.« Er machte die Augen zu, hob das Kinn Richtung Himmel und streckte die Arme mit nach oben gedrehten Handflächen zur Seite aus. »So ungefähr.«
    Stride runzelte die Stirn. Es war ein unfreundlicher Oktoberabend gewesen, mit heftigen Windböen, und die Hagelkörner waren wie Geschosse vom Himmel geprasselt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand in einer solchen Nacht auf das Geländer geklettert sein konnte, ohne hinunterzufallen.
    Kevin wusste offenbar, was er dachte. »Sie hat eine ziemlich gute Körperbeherrschung. Wie eine Tänzerin.«
    Stride warf einen Blick über das Geländer nach unten. Der schmale Kanal war sehr tief, damit auch die riesigen Frachter mit ihren Bäuchen voller Eisenerz hindurchfahren konnten. Sein heftiger Sog konnte einen menschlichen Körper ohne weiteres hinunterziehen und nicht mehr freigeben.
    »Was in aller Welt hat sie damit bezweckt?«, fragte er.
    Jetzt meldete sich das junge Mädchen, Sally, zum ersten Mal zu Wort. Sie klang mürrisch. »Das war eine von ihren Spinnereien. So was macht sie ständig. Sie will immer die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«
    Kevin setzte zu einem Widerspruch an, entschied sich dann aber dagegen. Stride hatte den Eindruck, dass es sich um eine alte Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden handelte. Ihm fiel auf, dass Sally Kevin untergehakt hielt und ihn beim Sprechen ein bisschen näher zu sich heranzog.
    »Und was habt ihr dann gemacht?«, fragte Stride.
    »Ich bin hochgelaufen, auf die Brücke«, sagte Kevin. »Ich habe ihr runtergeholfen.«
    Stride sah, dass Sally unwillig den Mund verzog, als Kevin von dieser Rettungsaktion berichtete.
    »Erzähl mir mehr von Rachel«, sagte er zu Kevin.
    »Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir haben direkt nebeneinander gewohnt. Aber dann hat ihre Mutter Mr Stoner geheiratet, und sie sind ins Villenviertel gezogen.«
    »Wie sieht sie denn aus?«
    »Na ja, also … sie ist hübsch«, antwortete Kevin nervös, mit einem raschen Seitenblick auf Sally.
    Sally verdrehte die Augen. »Jetzt sag’s halt. Sie ist wunderschön, langes schwarzes Haar, groß, schlank, das ganze Programm. Und die größte Schlampe, die man sich vorstellen kann.«
    »Sally!«, protestierte Kevin.
    »Ist doch wahr, und das weißt du ganz genau. Denk nur an Freitag.«
    Sally wandte sich von Kevin ab, ließ seinen Arm aber nicht los. Stride sah, dass sie wütend den Mund verzog und die Lippen zusammenpresste. Sie hatte ein rundes Gesicht und wirre, kastanienbraune, schulterlange Locken, die ihr der Wind über die geröteten Wangen wehte. In ihrer engen Jeans und dem roten Parka war sie ein hübsches junges Mädchen, doch niemand hätte von ihr gesagt, dass sie schön sei. Sie nahm einem nicht den Atem. Sie war nicht wie Rachel.
    »Was ist denn am Freitag passiert?«, fragte Stride. Er wusste bisher nur das, was Kinnick, der stellvertretende Polizeichef, ihm zwei Stunden zuvor am Telefon erzählt hatte: Rachel war seit Freitag nicht mehr nach Hause gekommen. Sie war fort. Verschwunden. Wie Kerry.
    »Na ja, sie hat ein bisschen mit mir rumgemacht«, sagte Kevin widerwillig.
    »Vor meinen Augen!«, fauchte Sally. »Dieses verdammte Miststück!«
    Kevins blonde Augenbrauen krochen aufeinander zu wie zwei gelbe Raupen. »Hör auf damit. Sprich nicht so von ihr.«
    Stride hob die Hand, um den Streit im Keim zu ersticken. Er griff in seine abgeschabte Lederjacke und zog ein Päckchen Zigaretten hervor, das er in die Brusttasche seines Flanellhemds gesteckt hatte. Leicht angewidert betrachtete er das Päckchen, dann zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte ausgiebig. Der Rauch stieg ihm kräuselnd aus dem Mund und bildete eine Wolke vor seinem Gesicht. Er spürte, wie seine Lungen sich zusammenzogen. Dann warf er das angebrochene Päckchen in den Kanal, wo es kurz herumwirbelte, rot wie ein Tropfen Blut, und schließlich unter der Brücke verschwand.
    »Stopp«, sagte er. »Kevin, du erzählst mir jetzt alles. Von Anfang an. Aber fass dich kurz, okay?«
    Kevin rieb sich mit der Hand den Hinterkopf, bis das blonde Haar in alle Richtungen abstand wie die Zweige kahler Bäume im Winter. Dann straffte er die Schultern, die breit und muskulös waren. Die Schultern eines Footballspielers. »Rachel hat mich am Freitagabend auf dem Handy angerufen und gesagt, wir sollen sie im Canal Park treffen«, begann er. »Ich glaube, das war so um halb neun. Bei dem Sauwetter war sonst kein Mensch im Park. Als
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