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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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Baum ausging und sich bis in den hintersten Winkel des Gartens ergoss. Als sie näher heranging, nahm Eva die fruchtige Ausdünstung des großen Baumes als unbekannten Reiz im Mund wahr, als einen gewaltigen Lebensstrom, der alles um ihn herum durchdrang. Wie vor ihr Adam wurde auch sie plötzlich von Ehrfurcht erfasst und zweifelte an ihrem anfänglichen Impuls, die Rinde zu berühren und in die Früchte zu beißen.
    Sie war der rauhen Oberfläche des Holzes bereits sehr nahe, nur eine Armlänge entfernt, als vor ihren Augen ein Doppel erschien, wie das Spiegelbild in einem See: ein zweiter Baum, gleicher Art wie jener, der vor ihr stand, bloß fremd, verschwörerisch. So hell wie der erste, so dunkel war der zweite; die Oberseite seiner Blätter war diesmal purpurn, die Unterseite grün, die Früchte waren dunkle Feigen, umgeben von einer Dichte, einem undurchdringlichen, matten Licht ohne Leuchtkraft.
     
    Adam beobachtete sie im Verborgenen, und als sie den dicken Stamm zu umrunden begann und dahinter verschwand, ging er ihr nach.
    Dann konnte er die Frau nicht mehr sehen, obwohl er sie gut hörte. Er fragte sich, mit wem sie sprach. Sie waren nämlich noch keinem anderen Geschöpf begegnet, das wie sie Worte hatte, um seine körperlichen Empfindungen auszudrücken. Katze, Hund und all die anderen Tiere verständigten sich in elementaren Melodien miteinander. Sie nun reden zu hören machte ihn neugierig, doch der Anblick dieses Baum-Doppels mit umgekehrter Farbgebung ließ ihn stutzen. Ohne einen Laut folgte er dem Gemurmel ihrer Stimme. Da sah er sie auf einer riesigen Wurzel sitzen. Wie eine Extremität versank diese in der Erde rund um den Baum, den er für das Spiegelbild der Gedanken des Lebensbaumes über sich selbst hielt. Zwar spricht er nicht, dachte Adam, aber vielleicht schaut er sich auf diese Weise seine Vorstellungen an.
    Er war im Begriff, aus den Baumschatten hervorzutreten auf die Lichtung, da vernahm er eine laute Stimme. Zunächst vermutete er, der Andere habe sich endlich zu erkennen gegeben, doch dann überkamen ihn Zweifel. Das war nicht die körperlose Stimme, deren Gemurmel seinen Ohren so vertraut war und die leicht wie die Luft in seiner Brust widerhallte. Diese klang eher wie eine Flüssigkeit, die über die Erde rinnt und rasselnd Geröll mitführt. Er vernahm ein Lachen. Das gleiche Lachen wie das der Frau. Die Stimme sagte:
    »Ihr habt also gemerkt, dass wir euch beobachten? Wie schlau von euch! Ihr habt euch also auf den Weg gemacht, uns zu suchen? Alle Achtung! Ich hatte zwar schon vermutet, dass das passieren könnte, aber dennoch freue ich mich festzustellen, dass ich richtig lag. Wir konnten dem Wunsch, euch zu beobachten, einfach nicht widerstehen. Es war übrigens sehr unterhaltsam!«
    »Das heißt, du warst dabei nicht alleine? Hast du denn auch einen Partner?«
    »Einen Partner? Ich? Hmmmm. So habe ich mir das noch nie überlegt.«
    »Gibt es denn außer dir noch jemanden?«
    »Elohim. Er ist es, der euch erschaffen hat.«
    »Der Mann sagt, ich wäre aus ihm herausgekommen.«
    »Du warst im Mann verborgen. Elohim hat dich aus einer seiner Rippen geformt. Nicht aus seinem Kopf, damit du den Kopf nicht zu hoch trägst, und auch nicht aus seinem Herzen, damit sich in dem deinen nicht der Wunsch nach Besitz regt.«
     
    Das sagte die Stimme. Adam lauschte weiter.
     
    »Was befindet sich außerhalb dieses Gartens? Warum sind wir hier?«
    »Wozu willst du das wissen? Du hast doch hier alles, was du brauchst.«
    »Warum sollte ich es nicht wissen wollen? Was macht es schon, wenn ich es weiß?«
    »Elohim ist der Einzige, der es weiß. Wenn du dem Drang nachgibst, von den Früchten dieses Baumes zu essen, wirst auch du es wissen. Dann wirst du sein wie er. Dann wirst du verstehen, warum alles so ist, wie es ist. Ich bin übrigens hier am Fuß des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse, um dich zu warnen, denn wenn du davon isst, wirst du deine Unschuld verlieren und sterben«, sagte die Kreatur und grinste hinterhältig.
     
    Eva fragte sich, woraus sie bestand. Ihre Haut war so ganz anders als ihre eigene, in allen Regenbogenfarben schillernd und dehnbar, mit lauter kleinen Schuppen besetzt wie bei den Fischen. Die Kreatur war groß und stand aufrecht, sie hatte eine fließende, zartgliedrige Gestalt, die in langen, schlängelnden Armen und Beinen endete. In dem glatten, beinah flachen Gesicht waren das Auffälligste die lebendigen goldenen Schlitzaugen und der schmale Mund, den
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