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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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Regsamkeit war ihm ein Rätsel. Dennoch sehnte er sich nicht nach der stillen Kontemplation zurück, in die er sich zu versenken pflegte, bevor sie erschienen war. Obwohl sie ihn drängte, wie ein Moschustier von da nach dort zu traben, bereitete ihm ihr Lachen und Reden ungleich mehr Vergnügen als seine vorherige Stille und Einsamkeit.
     
    Vom anderen Ende des Gartens vernahmen sie das Rauschen immenser Überschwemmungen. In der Ferne sahen sie Dunkelheiten und glühende Ausbrüche, die regelmäßig darin aufflackerten, und von Zeit zu Zeit zog der Schweif eines Kometen über das Firmament. Doch der Himmel darüber blieb so hell wie ehedem, überzogen mit einem goldenen Schimmer, dessen Tönung ohne erkennbaren Rhythmus mal stärker und mal schwächer leuchtete. Die Erde unter ihren Füßen pochte. Eva bewegte sich auf Zehenspitzen auf Adam zu, als spielte sie mit ihrem Gleichgewicht, während er sich verzückt in den Anblick ihrer Zehen vertiefte, die sich streckten und krümmten, als wären es Fische.
     
    Adam konnte sich an den Baum in der Mitte des Gartens gar nicht erinnern. Er wunderte sich auch, ihn nicht wahrgenommen zu haben, glaubte er doch, seine Wohnstatt von einem Ende zum anderen erkundet zu haben.
    »Derjenige, der uns sieht, will nicht gesehen werden. Er verbirgt sich, aber wir müssen ihn trotzdem finden, Adam, wir müssen wissen, warum er uns beobachtet und was er von uns will.«
     

    Audio: Adam und Eva (02:32)
     
    Adam entschied, dass sie dem Lauf eines der Flüsse folgen sollten. Sie gelangten in den Regenwald. Die schweren, durchdringenden Gerüche der fruchtbaren Erde, auf der alle möglichen Farne, Pilze und Orchideen wuchsen, stiegen ihnen in die Nase. Verschlungene Pirolnester baumelten anmutig über ihren Köpfen von den hohen, mit Moosen und Flechten bedeckten Zweigen, die aussahen wie geklöppelte Spitzen. Sie sahen schlafende Faultiere an Armen und Beinen in den Bäumen hängen. Lärmende Affenhorden tobten sich überschlagend in den Baumwipfeln. Tapire und Hasen kreuzten ihren Weg oder strichen ihnen zutraulich um die Beine. Obwohl der grüne Dschungel sie warm und von Leben wimmelnd empfing, schritten sie schweigend dahin, während sie immer tiefer in die von Lauten und Düften schwangere Atmosphäre vordrangen, ins verborgene Herz ihres Paradieses.
    Im dichten Urwald liefen sie schließlich im Kreis und verloren immer wieder die Orientierung; dennoch wanderten sie beharrlich weiter, bis ihre Schritte sie unvermutet in die Mitte des Gartens führten. Dort, so entdeckten sie, nahmen nicht allein die beiden östlich und westlich verlaufenden Ströme ihren Anfang, sondern sämtliche Wege gingen strahlenförmig von hier aus, um sich später zu verzweigen. Der Baum, an dessen Fuß sich Wasser und Erde vereinigten, war ungewöhnlich. Nach oben verlor sich sein Geäst in den Wolken und streckte sich seitlich, so weit das Auge reichte. Adam musste sich unwillkürlich vor dieser Herrlichkeit verneigen. Als Eva einen Schritt näher ging, versuchte er instinktiv, sie zurückzuhalten. Sie drehte sich aber nur um und sah ihn mitleidig an.
     
    »Er kann sich nicht bewegen«, sagte sie zu Adam. »Und er kann nicht sprechen.«
    »Er hat sich nicht bewegt und er hat nicht gesprochen«, erwiderte er. »Aber wir wissen nicht, wozu er fähig ist.«
    »Es ist ein Baum.«
    »Es ist kein beliebiger Baum. Es ist der Lebensbaum.«
    »Woher weißt du das?«
    »Als ich ihn gesehen habe, wusste ich, was er ist.«
    »Er ist jedenfalls wunderschön.«
    »Er ist gewaltig. Und ich finde, du solltest nicht so nahe drangehen.«
     

    Audio: Der Baum (00:58)
     
    Während ihn der Baum offenbar lähmte, vermochte sie das Bedürfnis, den dicken, kräftigen Stamm zu berühren, der sie mit seinem Glanz bezauberte, kaum zu unterdrücken. Von all der Schönheit um sie herum waren ihr die Augen übergegangen, von all den Farben und Vögeln und von den anmutigen wilden Tieren, die ihr der Mann voller Stolz gezeigt hatte – aber nichts von alledem kam ihr so herrlich vor wie dieser Baum. Ihre ganze Vorstellungskraft wurde vereinnahmt von seinen Blättern mit der hellgrünen, glänzenden Oberseite, die von unten purpurn leuchteten und mit dicken, hellen Venen durchzogen waren. Das Laub an den zahllosen, nach allen Richtungen ausgebreiteten Zweigen schluckte das Licht und verströmte es wieder, so dass der ganze Umkreis strahlte. Die Schale seiner rundlichen Früchte schimmerte weiß im phosphoreszierenden Licht, das vom
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