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Und stehe auf von den Toten - Roman

Titel: Und stehe auf von den Toten - Roman
Autoren: Heyne
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wusste, dass er dieser Vorstellung nicht würde widerstehen können. Sie selbst hingegen streifte mit der Art von Bescheidenheit, die schon an Koketterie grenzt, das unförmige Narrenkostüm des Pulcinells über wie so viele andere auch. Der um ihren jungen Körper schlackernde Stoff verlieh ihr einen unwiderstehlichen Charme, den Reiz des Knabenhaften.
    Gegen Mittag trieb es die Geschwister zum Corso. Sie tauchten in die bunte Welt der Narren und Spitzbuben ein, in das römischste aller Feste, den Karneval, in dem kein Papst, kein Vikar der Stadt und keine Heilige Inquisition existierten, nur Menschen, die ihre Fantasien lebten.
    Der Februar gab sich in diesem Jahr kühler als normalerweise, und das tiefe Blau des römischen Himmels war von einer eisigen Blässe überzogen. Das Firmament wirkte unter dem Firnis des Raureifs unbeseelt wie die starren Züge der Masken und die bunten Kostüme wie lackiert in der kalten, klaren Luft. Auf den Straßen, Gassen und Plätzen der Stadtteile Regola, Parione, Ponte, Pigna, San Eustachio, San Angelo und Trevi galten in den kommenden drei Tagen ausschließlich die Gesetze der Narren. Obwohl für gewöhnlich in diesen drei Tage mehr Menschen verletzt und beraubt wurden oder den Tod fanden als zu anderen Zeiten - oder vielleicht sogar deshalb -, liebte das Volk von Rom, der Poppolo, das Fest und feierte es in derber Ausgelassenheit. Einmal im Jahr zumindest schienen alle Menschen gleich zu sein. Ihre Wünsche hatten durch die Verkleidung Gestalt angenommen und posierten nun für alle sichtbar auf den Straßen wie auf einer riesigen Theaterbühne.
Die Grundlage des Vergnügens bestand in der Anonymität. Jeder war vollkommen das, was er vorgab zu sein.
    Die Geschwister kämpften sich zum Corso durch, um das traditionelle Pferderennen mitzuerleben. Je näher sie der Rennstrecke kamen, umso dichter wurde das bunte Flickengewand der Leiber. Der Geruch von Schweiß, Fusel, Urin und Schminke hing in der Luft. Das junge Mädchen fragte sich aufgeregt, ob das der Geruch des Abenteuers war. Aufreizend und abstoßend zugleich. Schließlich drängten sich die Menschenmassen wie ein mächtiger Keil zwischen Cäcilia und ihren Bruder und trieben die beiden gleichgültig und unerbittlich auseinander. Sie streckte noch ihre Hand nach ihm aus, vergeblich. Dann hörte sie ihren Bruder rufen, bevor seine dünne Stimme im Tosen des allgemeinen Lärms unterging.
    Cäcilia brauchte einen kurzen Moment, ehe sie ihre Situation überschaute, dann aber huschte unwillkürlich ein Lächeln über ihre sinnlichen Lippen. Frei! Das erste Mal in ihrem Leben war sie ohne jede Aufsicht, ohne Amme, ohne Mutter, ohne Vater und ohne Bruder. In der großen Stadt stand sie plötzlich ganz auf sich allein gestellt da. Das Gefühl hob sie wie ein Orkan aus ihrem spießigen Leben und erfüllte sie mit einer ungekannten Kraft. Cäcilia atmete tief durch und spürte, wie wilder Unternehmungsdrang jede Zelle ihres Körpers flutete. Übermütig lachte sie auf. Warum sollte sie ihren brüderlichen Aufpasser suchen und die unverhofft gewonnene Freiheit wieder aufgeben? So eine Gelegenheit würde sich nie wieder bieten. Sie liebte das Abenteuer, das sie daheim im wohlgeordneten Orvieto allenfalls in der Vorstellung unternehmen durfte. Jetzt aber ging durch eine Laune des Schicksals ihr Traum in Erfüllung, die wilde und gefährliche Welt auf eigene Faust zu
erkunden. Sie war alt genug, sie war klug genug, was sollte ihr schon passieren? Genügend Geschichten hatte sie gehört, unzählige Romane gelesen.
    Amüsiert beobachtete sie, wie man den Leichtsinnigen, die sich unmaskiert ins Gewühl gewagt hatten, den Buckel für den Gesetzesbruch gerbte. Mehr noch als das Kostüm bedeutete die Maske Schutz und Freiheit. Sich unmaskiert hierherzuwagen, galt als Anschlag auf die Freiheit des Karnevals und somit als Hochverrat an der Republik der Närrischen Drei Tage.
    Junge Männer in Frauenkleidern sprachen sie an, aber sie erteilte ihnen beherzt eine Abfuhr. Sie ahmten zur Belustigung der Umstehenden verliebte Jungfrauen oder geschäftstüchtige Huren nach. Advokaten bedrohten Passanten damit, Prozesse auf der Grundlage willkürlich erfundener Vergehen gegen sie anzustrengen. Damit brauchte man Cäcilia, der Tochter eines Notars, nicht zu kommen. Und während sie wieder einem als Rechtsanwalt verkleideten Narren den Spaß verdarb, sprach sie ein junger Mann mit wohlklingender Stimme, aber hartem Akzent an.
    »Bezaubernder Pulcinell,
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