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Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)

Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)

Titel: Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)
Autoren: Ulrich Kienzle
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mehr als Tausend Stunden lang eng in kleinem Kreis mit ihm zusammengehockt bin. Aber ich weiß, dass er auch ganz Unglaubliches leisten konnte. Er konnte morgens um 5 Uhr aufstehen und handschriftliche Briefe an die Rentnerin Frida Maier schreiben, die ihm wegen ihrer Rente geschrieben hat. Das war die andere Seite von Wehner. Im Bundestag, wenn fast niemand mehr da war, saß Wehner noch – und seine Stieftocher brachte immer mal wieder ein Butterbrot vorbei. Ich hatte das Gefühl, der will etwas gutmachen. Er will an der parlamentarischen Demokratie etwas gutmachen. Ein unendlich komplizierter Mensch.
    Sie haben Ihren Einstieg in die Politik mit ihren Kriegserlebnissen begründet, Sie wollten nach der braunen Vergangenheit ein anderes Deutschland.
    Ich wollte, dass meine Kinder und Enkel nicht das erleben, was ich als junger Mensch erlebt habe. Aber das haben viele gewollt. Das hat Jochen Vogel gewollt, das hat der Dietrich Genscher gewollt. Das ist nichts Besonderes.
    Die Menschen, die heute Politik machen, haben diesen Hintergrund nicht mehr. Welche Rolle spielt die Moral heute in der Politik?
    Man kann keiner Generation vorwerfen, dass sie in anderen Umständen groß geworden ist. Unsere Motivation kann nicht die Motivation der heutigen sein. Darauf dürfen wir uns nichts einbilden. Ich habe nie Moral gepredigt – wie zum Beispiel der Kohl mit seiner »geistig-moralischen Wende«. 6 Das hielt ich immer für verkappte Machtpolitik. Wenn Politiker anfangen zu moralisieren, dann geht es immer um die Macht. Und das ist absolut unmoralisch. Verstehen Sie, was ich meine? Man kann politisch nicht moralisieren, ohne unmoralisch zu werden. Deshalb habe ich mich da zurückgehalten.
    Wenn heute ein solches Bild von mir existiert, dann vielleicht, weil ich als Minister gesagt habe: »Wenn ich nicht das tun kann, was ich für richtig halte, dann gehe ich!« Also bin ich zurückgetreten, nachdem ich für das, was ich machen wollte, in meinem Ressort bei Helmut Schmidt kein Verständnis gefunden habe.
    Waren Sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu einem Kompromiss bereit?
    Es hätte Kompromisse gegeben, die ich akzeptiert hätte. Aber die, die sie mir angeboten haben, haben nicht gereicht.
    Auf eine Formel gebracht: Sie waren nicht moralischer Kompass, sondern Sie waren konsequent?
    Ich war kein Karrierist. Die eigentliche Krankheit der Politik ist der Karrierismus dieser jungen Leute, die sich einen Karriereplan machen und immer wissen, wem sie was sagen müssen. Auf diese Idee wären wir gar nicht gekommen! Als ich in den Bundestag kam, kannte ich das Wort »profilieren« noch nicht – diese »Verbrüderung« mit Journalisten, um sich zu profilieren.
    Die Medien haben damals noch nicht diese Rolle gespielt?
    Als ich als junger Abgeordneter im Bundestag saß, da hat der Fritz Schäfer, ein Schwabe aus Tübingen, zu mir gesagt: »Du musch oifach in oim Ausschuss sauber schaffe und irgendwann wird des g’merkt!« 7 Und so habe ich das gemacht – und zwar im Finanzausschuss. Das weiß heute kein Mensch mehr, dass ich sozusagen meine Gesellenarbeit im Steuerausschuss des Parlaments in den 1960er-Jahren gemacht habe. Es ging um Inhalte, und nicht um das eigene Weiterkommen.
    In wie vielen Aufsichtsräten waren Sie vertreten?
    In keinem. Doch! Ich war mal ein oder zwei Jahre lang als Mitglied des Finanzausschusses im Postverwaltungsrat. Aber da gab es keine Tantiemen.
    Aber Briefmarken!
    Ja, Briefmarken gab es. Wenn Sie über Korruption und Lobbyismus reden: Ich habe in 60 Jahren Politik, von denen ich ja nun 21 Jahre im Parlament war, nie erlebt, dass mir jemand ein unlauteres Angebot gemacht hat.
    Weil man wusste, dass Sie es nicht angenommen hätten.
    Ich habe es nie abgelehnt, weil ich es nie bekam.
    Weil man von Ihnen nie angenommen hätte, dass Sie es annehmen würden.
    Das mag ja sein. Ich habe da keine Erfahrung. Ich kann mich da nicht moralisch brüsten. Ich habe aber gemerkt, wie so etwas läuft: Ich war mal Berichterstatter fürs Bewertungsgesetz im Jahr 1965. Da gab es zwei Lobbyisten der Forstwirtschaft – der eine hieß Forstmann und der andere hieß Rehbock. Und bei denen hab ich wirklich gelernt, was Lobbyismus ist. Als sie merkten, dass bei mir nichts läuft, sind sie zu den Ministerialbürokraten und haben sich dort durchgesetzt. Die guten Lobbyisten gehen heute zu den Ministerialbürokratien und sorgen dafür, dass sich die Gesetzentwürfe schon nach ihrem Gusto entwickeln.
    Ist Ihre Konsequenz typisch
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