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Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)

Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)

Titel: Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
Autoren: Jorge (Papst Franziskus) Bergoglio , Abraham Skorka
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Es gibt im Judentum wie in jeder anderen Glaubensgemeinschaft geistliche Führer, die diese Art von Religiosität, die dem Innersten entspringen muss, negieren und über das Leben der anderen bestimmen wollen. Wie ist das im Katholizismus?
    Bergoglio : Der Lehrer unterbreitet die Wahrheiten Gottes, er zeigt, welches der Weg ist. Wenn er jedoch ein wahrer Lehrer ist, lässt er seinen Schüler gehen und begleitet ihn in seinem geistlichen Leben.
    Skorka : Wie viele nicht so wahre Lehrer gibt es? Hat ihre Zahl in letzter Zeit zugenommen?
    Bergoglio : Ja, die Zahl der kleinen reaktionären Gruppierungen hat zugenommen; ich nenne sie Fundamentalisten. Wie Sie sagten, inmitten dieser ganzen Unsicherheiten sagen sie den jungen Leuten: »Mach dies und jenes.« Daraufhin begeistern sich die Jungen oder Mädchen von 17 oder 18 Jahren, sie treiben sie mit strikten Anweisungen nach vorn und legen ihnen wirklich eine Hypothek auf ihr Leben, und mit 30 explodieren sie. Denn sie haben sie nicht vorbereitet, um die tausendundeine Lebenskrise zu überstehen, den tausendundeinen eigenen Fehler eingeschlossen, die tausendundeine Ungerechtigkeit, die man begeht. Sie verfügen beispielsweise über keine Elemente, um die Barmherzigkeit Gottes kennenzulernen oder zu verstehen. Diese sehr starre Art der Religiosität verkleidet sich mit Doktrinen, die Rechtfertigungen zu geben behaupten, doch in Wirklichkeit entziehen sie die Freiheit und lassen die Leute nicht wachsen. Zu einem großen Teil landen sie im Doppelleben.
    Skorka : Der Fundamentalismus ist eine Haltung, die sagt: Die Dinge sind so und nicht anders, Ende der Diskussion. Man darf aber auch nicht ins andere Extrem verfallen und so tun, als wäre alles beliebig. Man muss den Mittelweg finden. Oder wie Maimonides schon im Mittelalter lehrte: den »goldenen Weg«. Das gilt nicht nur für die Religion, das gilt für alle Ordnungen, vor allem auch für die Politik. Es ist nur so, dass es in der Religion verheerendere Folgen hat. Wenn jemand im Namen Gottes tötet, tut es mehr weh, viel mehr weh. Und auch der Schaden ist größer, denn es wird nicht nur ein perverses Verbrechen verübt und die Würde des Menschen verletzt, sondern auch der Glauben selbst unterhöhlt. Dem Glauben wird sozusagen die Glaubwürdigkeit genommen. Ich benutze das Wort in einem sehr weiten Sinn: als Glauben an Gott und als Glauben an eine Welt, in der die Menschen in Frieden und Eintracht leben können.
    Bergoglio : Im Allgemeinen betrachtet man Fundamentalisten in den Religionen als Sonderlinge. Deshalb kommt der Wahrnehmung des religiösen Oberhaupts über die fundamentalistischen Gruppen seiner Gemeinschaft eine immense Bedeutung zu. Manche sind naiv, sie durchschauen es nicht und tappen in die Falle. Aber es gibt einen Instinkt, der uns sagen lässt: »Das ist nicht der Weg, den ich möchte.« Der Auftrag des Herrn ist: »Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen.« 55 Auf dem Weg, beim Gehen, widerfährt einem alles Erdenkliche, und das kann Gott verstehen. Im rechtschaffenen Wesen liegt die Reue für die begangenen Fehler und die Wiederannahme des Herrn. Der Fundamentalist kann in sich selbst keinen Fehler ertragen. In einer gesunden Religionsgemeinschaft spürt man sie sofort auf. Man hört: »Das ist ein Extremist, der geht zu weit, man sollte ein bisschen verständnisvoller sein.« Fundamentalismus ist nicht, was Gott möchte. Als ich ein kleiner Junge war, gab es in meiner Familie beispielsweise eine gewisse puritanische Tradition, nicht fundamentalistisch, aber auf dieser Linie. Wenn jemand Nahestehendes sich scheiden ließ oder sich trennte, betrat man sein Haus nicht mehr; man glaubte kaum weniger, als dass die Protestanten alle in die Hölle fahren würden. Aber ich erinnere mich an das eine Mal, als ich bei meiner Großmutter war, einer großartigen Frau, und gerade zwei Frauen von der Heilsarmee vorbeikamen. Ich fragte sie mit meinen fünf oder sechs Jahren, ob das Nonnen seien, weil sie diese Häubchen aufhatten, die sie früher trugen. Sie gab mir zur Antwort: »Nein, das sind Protestanten, aber sie sind gut.« Das war die Weisheit der wahren Religion. Es waren gute Frauen, die Gutes taten. Diese Erfahrung kontrastierte mit der puritanischen Ausbildung, die man anderswo erhielt.
    Skorka : Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel hat ein Buch mit dem Titel »Die Rache Gottes« geschrieben. Darin untersucht er den islamischen Fundamentalismus, aber nicht ohne vorher einen
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