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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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verlässt den kleinen Lichtkreis der Schreibtischlampe und geht durch den Flur zur Küche. Die Einrichtung der Wohnung ist dermaßen einfallslos, dermaßen dumm, dermaßen Tante Dora, dass sie fast irreal wirkt, wie eine Theaterkulisse, wie ein Filmset, wo alles echt aussieht, ohne es zu sein.
    Die Tür des Gästezimmers zu ihrer Linken, wo Ingrid schläft, ist halb offen. Obwohl Ingrids Kinder schon groß sind und nachts nicht mehr nach ihr rufen, hat sie sich nie angewöhnen können, die Tür zu schließen. Rita bleibt auf der Schwelle stehen, lehnt sich an den Türrahmen, blickt ins Dunkel und lauscht eine Weile den langsamen Atemzügen ihrer Freundin. Dabei schnippt sie die Asche auf die gewachsten Fliesen, die trotz der feinen Staubschicht glänzen, als wären sie nass, und genießt es mit kindlicher Bosheit, die Wohnung ihrer Tante zu verschmutzen, wirft schließlich sogar die Kippe auf den Boden und tritt sie mit der Stiefelspitze platt.
    Ein plötzlicher Lachanfall zwingt sie, sich den Mund zuzuhalten und in die Küche zu flüchten, um Ingrids leichten Schlaf nicht zu stören. Sie selbst kann nicht schlafen, trotz der ermüdenden Reise und der Aufregung, in eine Stadt zurückzukehren, in der sie seit über zwanzig Jahren nicht gewesen ist. »My home town« , murmelt sie und tritt auf den Balkon hinaus, während aus einem geparkten Auto, in dem ein Paar sich leidenschaftlich küsst, lautstarke Musik heraufdröhnt.
    Als sie aufsieht, bleibt ihr Blick an den hohen Gebäuden hängen, die die zweistöckigen Einfamilienhäuser mit den roten Dächern und einer Palme im Hof fast vollständig verdrängt haben.
    Wäre dies einer ihrer Filme, erklänge dazu wahrscheinlich My home town oder vielleicht auch Glory days in der Originalversion von Bruce Springsteen, aber was jetzt ertönt, ist etwas anderes, ein Hämmern, das an ihren Nerven zerrt, sodass sie wieder hineingehen und die Balkontür schließen muss.
    Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen. Augenblicklich, mitten in der Nacht, ohne jemanden gesehen zu haben, ohne sich zu verabschieden. Aber Ingrid hat ihr klar vor Augen geführt, dass sie nicht länger davonlaufen darf, dass sie zurückkehren muss, um den Kreis zu schließen, die Wohnung ihrer Tante zu verkaufen, sich einer gegenwärtigen Realität zu stellen, die mit der ihrer Erinnerung nichts mehr gemein hat. Ingrid hat recht, trotzdem fürchtet sie sich davor.
    Sie geht wieder ins Arbeitszimmer, zündet sich eine Zigarette an und schaut noch einmal auf das Foto, das sie an dem Platz gefunden hat, an dem es seit damals gelegen hat: in ihrem Taschenkalender von 1974, in der Kiste, die sie im September jenen Jahres zu Tante Dora gebracht hatte, weil sie zum Studieren nach London ging und ihre Eltern die Gelegenheit nutzen wollten, um ihre Wohnung zu renovieren.
    Im Lauf der Jahre hat Rita oft an diese Kiste, an diesen Kalender gedacht. Sie hat sich vorgestellt, wie er in dem dunklen Schrank des kleinen Zimmers, das einmal für ein paar Wochen ihr Zimmer gewesen war, auf sie wartet; manchmal mit dem Wunsch, ihn dort zu finden, wenn sie eines Tages beschließen sollte, ihn zu holen, manchmal in der Hoffnung, dass Tante Dora sich durchringen möge, das ganze alte Gerümpel wegzuwerfen, und dass dabei auch die Kiste verschwinden würde, genau wie ihre Eltern verschwunden waren und das Haus und El Campo – das Grundstück auf dem Land, wo ihre Familie ein Ferienhäuschen hatte – und sogar ihr Bruder, der seit Jahrzehnten in Neuseeland lebt.
    Das Foto scheint ihr boshaft zuzuzwinkern und zwingt sie, an Dinge zu denken, die sie glaubte, vergessen zu haben. Aber zu vergessen ist schlimmer als sich zu erinnern, das weiß sie. Sie hat einen Film darüber gemacht. Für diesen Film hat man ihr vor zwei Jahren einen Oscar verliehen.
    In der Glastür des Arbeitszimmers spiegelt sich ihre Gestalt, unscharf und von der biegsamen Schreibtischlampe schwach beleuchtet. Bei jedem Zug glimmt am Ende ihrer Zigarette ein roter Punkt auf wie das Auge eines wilden Tieres in seinem Schlupfloch, funkelt einen Augenblick lang bedrohlich, um sofort wieder zu erlöschen. »Wo ist dieses lächelnde Mädchen geblieben?«, fragt sie sich und fährt sich über das kurze Haar, die knochigen Wangen, den hageren, immer noch festen, ein wenig männlichen Körper mit den kleinen Brüsten und den schmalen Hüften, eine Figur, wie sie in den Siebzigerjahren noch nicht in Mode war, es aber heute sein könnte, wie Ingrid meint, wenn Rita nicht

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