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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch
Autoren: Stephen King
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Gespenster sehen könne.
    »Jeden.«
    Baker legte ihm eine Hand auf die Schulter, und Garraty fing an zu weinen. Er hatte das Gefühl, als spränge ihm das Herz aus der Brust und löste sich in Tränen auf.
    Leise sagte Baker: »Bleigefaßt.«
    »Geh noch ein bißchen weiter«, bat Garraty unter Tränen. »Geh noch ein bißchen weiter mit mir, Art.«
    »Nein - ich kann nicht.«
    »Na gut.«
    »Vielleicht sehen wir uns ja, Mann«, tröstete Baker ihn und wischte sich zerstreut das Blut aus dem Gesicht.
    Garraty senkte den Kopf und schluchzte.
    »Sieh nicht zu, wenn sie es machen«, bat Baker ihn. »Bitte, versprich mir auch das.«
    Garraty nickte, unfähig zu sprechen.
    »Danke. Du bist mein Freund gewesen.« Baker versuchte zu lächeln. Er streckte blind eine Hand nach ihm aus, und Garraty schüttelte sie mit beiden Händen.
    »Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort«, sagte Baker.
    Garraty schlug die Hände vors Gesicht und lief tief vornübergebeugt weiter. Geschüttelt von Schluchzen erlebte er jetzt Qualen, die der ganze Marsch ihm nicht bereitet hatte.
    Er hoffte, er würde die Schüsse nicht hören. Aber er hörte sie.

    Sie waren vierzig Meilen vor Boston.
    »Erzähl uns eine Geschichte, Garraty«, sagte Stebbins plötzlich. »Erzähl uns eine Geschichte, die uns von unseren Problemen ablenkt.« Er war unglaublich gealtert; Stebbins war ein Greis geworden.
    »Ja«, stimmte McVries mit ein. Auch er sah jetzt alt und weise aus. »Eine Geschichte, Garraty.«
    Garraty sah mißtrauisch von einem zum anderen, konnte aber kein doppeltes Spiel in ihren Gesichtern zu entdecken. Sie waren nur knochig und müde. Er selbst war von seinem Höhenflug wieder heruntergekommen. All die häßlichen, zehrenden Schmerzen hatten ihn wieder eingeholt.
    Für einen langen Augenblick schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte die Welt sich verdoppelt, und es dauerte eine Weile, bis er sie wieder scharf sehen konnte. »Na gut«, willigte er ein.
    McVries klatschte dreimal feierlich in die Hände. Er lief mit drei Warnungen. Garraty hatte eine; Stebbins keine.
    »Es war einmal ein -«
    »Oh, nein! Wer will denn jetzt so ein verdammtes Märchen hören?« unterbrach Stebbins ihn.
    McVries kicherte.
    »Du wirst dir das anhören, was ich dir erzählen werde!« antwortete Garraty böse. »Hörst du nun zu oder nicht?«
    Stebbins stolperte gegen ihn, und beide wurden verwarnt. »Nun ja, ein Märchen ist wohl besser als gar keine Geschichte«, murmelte er.
    »Es ist sowieso kein Märchen. Daß es in einer Welt spielt, die nicht existiert, heißt noch lange nicht, daß es ein Märchen ist. Es heißt doch nicht, daß -«
    »Erzählst du sie jetzt oder nicht?« fragte McVries bockig.
    »Es war einmal ein weißer Ritter«, fing Garraty an, »der in die Welt hinauswanderte, um eine heilige Aufgabe zu erfüllen. Er verließ sein Schloß und wanderte durch den verzauberten Wald -«
    »lütter reiten«, widersprach Stebbins.
    »Ritt durch den verzauberten Wald. Na gut, dann ritt er eben. Und er hatte eine Menge seltsamer Abenteuer zu bestehen. Er kämpfte mit Tausenden von Trollen und Zwergen und ganzen Rudeln von Wölfen. In Ordnung? Endlich erreichte er des Königs Schloß und bat um die Erlaubnis, Gwendolyn, die weltberühmte schöne Prinzessin, zu einem Spaziergang ausführen zu dürfen.«
    McVries lachte.
    »Der König gab seine Zustimmung natürlich nicht, denn er glaubte, daß niemand gut genug dafür sei, seine Tochter Gwen, die weltberühmte Schönheit, auszuführen, doch die schöne Prinzessin liebte den weißen Ritter so sehr, daß sie drohte, mit ihm in den wilden Wald abzuhauen, wenn... Wenn...« Er wurde plötzlich von einem Schwindel erfaßt, der seinen Blick verdunkelte, und er hatte das Gefühl, in der Luft zu schwimmen. Das Dröhnen der Menge schlug wie ein Ozeanbrecher über ihm zusammen und blendete sich plötzlich ganz aus. Dann ging es langsam vorüber.
    Er sah sich um. McVries hatte den Kopf gesenkt und taumelte schlafend auf die Menge zu.
    »He!« schrie er ihn an. »He, Pete! Pete!«
    »Laß ihn«, schrie Stebbins. »Du hast uns allen dein Versprechen gegeben!«
    »Arschloch!« sagte Garraty unmißverständlich und eilte an McVries' Seite. Er rüttelte ihn an der Schulter und weckte ihn wieder auf. McVries blickte verschlafen um sich und lächelte. »Nein, Ray. Es ist Zeit, mich hinzusetzen.«
    Entsetzen zerriß Garratys Brust. »Nein! Unmöglich!«
    McVries sah ihn aufmerksam an, lächelte wieder und
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