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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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nichts gezerrt.
    »Vater? Großmutter?«
    Ihre Stimme klang rau, als wäre sie zu lange im kalten Fjord geschwommen oder als hätte sie im Winter an Eiszapfen gelutscht, die vom Dach des Langhauses wuchsen. Allerdings war ihr nicht kalt - vielmehr heiß. Ihr brach Schweiß aus, als plötzlich ganz dicht neben ihr eine Stimme antwortete - weder die ihres Vaters noch die der Großmutter, ein scheues Flüstern nur.
    »Du bist erwacht«, stellte die Stimme fest.
    Runa drehte den Kopf und wurde erneut von stechendem Schmerz bestraft. Trübes Licht fiel durch die Ritzen der Wände und eines Dachs, das unmittelbar über Runas Kopf zusammenzuwachsen schien. Unmöglich, dass man in dieser winzigen Kammer, die nichts mit dem vertrauten Langhaus gemein hatte, stehen konnte. Anstatt zu erkunden, aus welchem Mund die Stimme erklungen war, kroch Runa auf allen vieren zu einer der Ritzen zwischen den Holzbalken und lugte hinaus. Weder sah sie einen Teil des Schiffes noch Ruder, nur das Meer, weit wie der Himmel, glatt und schwarz, dann und wann vom Schaum sich kräuselnder Wellen zerrissen. Das Schwanken hatte etwas nachgelassen. Runa kroch weiter, blickte durch einen anderen Spalt. Auch von hier sah sie nicht mehr - weder das weiße Glitzern des Fjords noch das matte Grün der Wiesen, nirgendwo Häuser und Menschen. Nirgendwo Land.
    »Großmutter ...«
    Der Vater hatte sie aus der Heimat verschleppt, und ihre Großmutter war tot. Inmitten aufsteigenden Schwindels und plötzlicher Übelkeit überkam Runa diese Gewissheit so heftig wie ein Schlag ins Gesicht.
    »Ich soll mich um dich kümmern.«
    Runa hatte nicht bemerkt, dass sie schwer zurückgefallen war, der Last nicht standgehalten hatte - der Last des eigenen Körpers und des Wissens darum, was sie verloren hatte.
    Eine Frau beugte sich über sie, nein, eigentlich noch ein Mädchen, wohl einige Jahre jünger als sie, ein dünnes Geschöpf mit apfelroten Wangen und zu zwei festen Zöpfen geflochtenem Haar, so farblos wie Hanf. Die Brosche aus Schildpatt, die ein weiches graues Wolltuch an den Schultern zusammenhielt, war das Einzige in der Kammer, was glänzte.
    »Das ...«, sagte sie, »... das soll ich dir geben.«
    Sie hob ihre Hände so ehrfürchtig, als würde sie nicht nur einer Fremden ein Geschenk übergeben, sondern den Göttern ein Opfer darbringen, um sie gnädig zu stimmen. »Es ist von deinem Vater ...«
    Runa presste die Augen zusammen; der Schmerz in ihrem Nacken wanderte zur Brust, nahm wieder die Gestalt des Raubvogels ein, der jetzt mit spitzem Schnabel auf sie einhackte. Ein Mal würde dort bleiben, wenn er endlich von ihr abließ, ein Mal, das nie vernarbte.
    Mein Vater hat mich verschleppt, und meine Großmutter ist tot.
    Runa blickte auf die Gaben des Mädchens. In einer Hand hielt es zwei Kämme - aus dem Geweih eines Hirsches geschnitzt und mit runden Ornamenten verziert, die zwei Schlangen glichen, ineinander verschlungen und bestrebt, sich zu erwürgen -, in der anderen einen Umhang aus Ziegenleder und eine Kordel, die ebenfalls einer Schlange glich und wohl dafür gemacht war, sich die Taille zu schnüren. Das Ziegenleder war fein und edel, doch Runa befühlte nicht des Mädchens Gaben, sondern umkrampfte den eigenen Kittel, rau und voller Flicken und mit Asruns Blut besudelt.
    »Ich will nichts davon!«, brach es aus ihr hervor.
    Das Mädchen zuckte zusammen, und augenblicklich tat es Runa leid, so schroff mit ihm geredet zu haben. Sie wollte es nicht kränken, ihm keinen Schmerz zufügen, wollte nur den eigenen irgendwie ertragen, den hungrigen, gierigen Vogel loswerden, der unablässig auf sie einhackte.
    »Mein Vater ist ein Mörder«, rief sie, weniger wütend als verzweifelt und weil sie sonst erstickt wäre.
    Runa schloss die Augen. Sie wollte nichts sehen - weder das bestürzte Gesicht des Mädchens noch die hoffnungslose Weite draußen, wo sich in der Ferne Himmel und Meer trafen.
    Als Runa wieder erwachte, hockte nicht das Mädchen, sondern der Vater bei ihr. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen stand Unbehagen. Vielleicht dachte er an seine tote Mutter, vielleicht wappnete er sich gegen Runas Vorwürfe. Sie blieben aus. Weder konnte sie ihm ins Gesicht sehen noch darüber sprechen, was geschehen war.
    Ob das Mädchen ihm wohl gesagt hatte, wessen sie ihn angeklagt hatte?
    Kurz wünschte Runa sich, er würde es abstreiten - dann bliebe Hoffnung, dass die Großmutter wider besseres Wissen noch lebte. Er tat es nicht. »Wir werden viele
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