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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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nicht sein eigenes. Sie lebt in einem Ozean aus Dunkelheit, einem Sternenhimmel aus von Feuchtigkeit gemusterten Mauern und der verräucherten Luft, aus der Körper wachsen. Ein Duft ist der von Agnes, ein anderer der ihrer Mutter. Fremde Düfte verklumpen zu unsteten, verwirrenden, lachenden, lauten Mündern, die glänzen und schwimmen und wieder in die Luft über ihrer Wiege verschwinden. Sie lebt in einem Ozean aus Lärm, sie wird getragen und weggerückt und saugt sich zahnlos durch in Honig getauchten Stoff, durch Hände und Düfte, eine Puppe, ein Kätzchen, dem man die Krallen abgeschnitten hat.
 
    Alles verschwindet, taucht auf und verschwindet wieder. Alles, was sie kennt, wird von einem unsichtbaren Strom weggerissen, der kreuz und quer durch das Zimmer läuft. Sie wartet zwischen Düften und Lärm, ist wachsam zwischen Licht und Schatten, sie wartet auf die einzigen wirklichen Flaggen auf ihrer Landkarte: Gesichter, Augen, plötzlich da, plötzlich weg.
 
    Der Hungerschmerz explodiert im Zentrum der Welt, verwandelt sich zu der süßen, warmen Milch an ihrem Gaumen. Zwischen den Händen tanzt schwarze Dunkelheit. Im Licht nehmen Menschen und Dinge ihre rechte Gestalt an, dort findet sie blendende Lichtblitze, dort findet sie ein Sternenauge, das größer ist als alle anderen Augen. Es kommt immer zurück. Auch wenn es in der Kammer leise ist, leuchtet das Auge treu über ihr. Die anderen bemerken, dass eine plötzliche Ruhe überdas Kleine kommt. Sie sagen: Seht mal, sie hat ihre Hände entdeckt, seht mal, sie betrachtet die Schatten, das Sonnenlicht, die Mauern . Die anderen sehen das Sternenauge nicht, aber Hildegard lauscht. Das Licht wird lebendig, es spricht, obwohl es keinen Mund hat.
 

 

7
      
Hildegard überlebt ihr erstes Jahr, und Mechthilds Sorgen häuten sich. Als das Haar des Mädchens endlich wächst und dichter wird, ist es blassrot, wie eine Ingwerwurzel, die quer durchgeschnitten und an der Luft eingeweicht wurde. Das ist kein gutes Zeichen. Alle anderen Kinder haben Hildeberts kräftiges, blondes Haar. Die roten Locken des Mädchens dagegen sind ihr ein Rätsel. Während ihrer Monatsblutung hat Mechthild nicht bei Hildebert gelegen. Sie hat Vater Cedrics Anweisungen befolgt, welche Tage für die Empfängnis eines Kindes günstig sind. Fällt der Schein der Sonne darauf, ist Hildegards Haar schön. Im Haus ist es dünn und ohne Glanz.
    Zuerst ist sie stolz auf die Aufgewecktheit des Kindes, dann bereitet sie ihr Kummer. Das ist nicht natürlich, denkt sie. Woher hat sie das? Viele Jahre später versucht sie sich einzureden, ihr Gedächtnis spiele ihr einen Streich, aber die Erinnerung an die Jahreszeit und an die Umstände rücken ihr jedes Mal den Kopf zurecht. Es war der erste Sommer, der Monat, in dem Hildegard ein Jahr alt wurde. Die Pferdeegel vermehrten sich in den kleinen Wasserlöchern, die Kletten trugen Blüten. Es war ganz sicher Juli, denn Roricus war gerade aufgebrochen, um Novize im Sankt Alban-Kloster in Mainz zu werden. Der Abschied brannte in Mechthild. Das ganze Frühjahr über hatte sie vomTor des Klosters geträumt. In einem der Träume war es wie ein Schoß gewesen, in einem anderen wie ein zahnloser Schlund. Dennoch war sie stolz gewesen, als sie ihn den Brüdern übergaben. Einen Sohn zu haben, der Diener Gottes ist, ist eine Ehre, und einen besseren Ort als das Kloster in Mainz hätten sie nicht finden können.
    Der Abschied brannte, ebenso wie Hildegards sonderbare Aufgewecktheit in ihr brennt. Mechthild schämt sich über die Wut, die unbarmherzig ihren Bauch knetet, als sei er ein Teig, über das Gefühl, Gott habe ihr etwas gestohlen, jedes Mal, wenn sie an die Zwillinge denkt, die gestorben sind. Als sie obendrein hört, dass Kristin Zwillinge bekommen hat, flammt die Raserei in ihr wieder auf, und sie braucht sehr lange, bis sie Hildebert ihre Glückwünsche mit auf den Weg nach Sponheim geben kann. Ob es dieselbe Wut und dieselbe Scham sind, die nur einen anderen Charakter annehmen, wenn sie Hildegard ansieht? Mechthild weiß nur, dass etwas an ihrem jüngsten Kind unnatürlich wirkt. Hildebert hingegen bemerkt überhaupt nichts, verbringt viel Zeit in Sponheim. Sie fragt sich, ob ihn überhaupt noch interessiert, was in seinem eigenen Zuhause vorgeht. Wenn er endlich zurückkommt, fragt er nach Hildegard, bevor er sich nach den anderen erkundigt, als wäre das schwächliche Kleine das Einzige, das ihm am Herzen liegt. Hild nennt er sie, genauso, wie
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