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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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er war sich nicht sicher, ob er mit dieser seltsamen Kreatur etwas zu tun haben wollte. Die Otter-Frau musterte ihn so eindringlich, daß Tamino sich plötzlich daran erinnerte, daß er nackt war. Er griff nach der Tunika und zog sie schnell über den Kopf. Warum war er in Gegenwart eines Tieres so befangen? Doch als er sie ansah, bemerkte Tamino, daß er sich ihrer Weiblichkeit sehr wohl bewußt war. Sie erregte ihn nicht, doch er fühlte sehr deutlich, daß sie kein Tier, sondern eine Frau war und entsprechend behandelt werden mußte. Dies ärgerte und verwirrte ihn. Weshalb schämte er sich und sie tat es nicht?
    Leises Plätschern im Teich machte ihn auf drei oder vier kleinere behaarte Gesichter aufmerksam. Es waren die Ebenbil-der der Halbling-Frau. Die Kleinen betrachteten ihn aus dem sicheren Wasser und gaben leise, kindliche Laute von sich. Er überlegte, ob der Halbling die Sprache der Menschen beherrschte und ob es Sinn hatte, nach dem Weg zu fragen. Er machte einen Schritt auf die Otter-Frau zu, aber sie glitt schnell das Ufer hinab und ins Wasser. Dabei drehte sie den Kopf soweit rückwärts, wie es einem Menschen nicht möglich gewesen wäre, und ließ Tamino nicht aus den Augen.
    Glaubte sie, er führte etwas Böses im Schild?
    Tamino räusperte sich befangen und sagte: »Ich will dir nichts tun.«
    Die behaarten Kinder quiekten leise, aber die Otter-Frau starrte ihn mit den braunen Augen nur neugierig und miß-
    trauisch an. Er dachte: Schließlich ist sie eine Frau, wenn auch eine sehr merkwürdige Frau. Vielleicht hat sie gute Gründe, Fremde zu fürchten, die ihr hier in der Wildnis begegnen.
    ∗ ∗ ∗
    Tamino hatte sie sehr deutlich als Frau erkannt, doch auf unerklärliche Weise wußte er, daß andere Männer anders reagiert hatten und ihre Furcht berechtigt war. Sie blickte ihn unverwandt an, und dieser zudringlich dunkle Blick gab ihm das fröstelnde Gefühl, er habe ihr bereits etwas angetan, indem er war, was er war: ein Mensch. Das ärgerte ihn. Ihn traf keine Schuld daran, daß er ein Mann und ein Prinz aus dem Westen war.
    »Ich wollte«, sagte Tamino förmlich, »dich nur nach dem Weg zum Großen Tempel der Weisheit, zum Palast des Sonnenkönigs fragen.«
    Schweigen. Die Halbling-Frau starrte ihn aus großen, dunklen Augen an, und die haarigen Kinder gaben wieder leise Laute von sich. Er wünschte, sie würde sprechen, wenn sie dazu in der Lage war.
    Plötzlich wies sie schnell mit einem ihrer kurzen Arme nach Nordosten und tauchte mit einem Klatschen ins Wasser. Zu-rück blieben nur ein paar kreisförmige Wellen. Es klatschte noch viermal, und die Kinder verschwanden ebenfalls.
    Tamino starrte einen Augenblick lang auf die kleinen Wellen im Wasser, ehe er sich abwandte. Das war das erste Zusammentreffen mit merkwürdigen Dingen, die ihm, wie er wußte, im Land der Wandlungen begegnen würden und er war sicher, er würde im Land der Priesterkönige von Atlas-Alamesios noch Seltsameres sehen.
    Tamino sammelte die Überreste seiner Mahlzeit ein und wollte sie in der weichen Erde am Teich vergraben, überlegte dann aber, ob die Ottern Fleisch fraßen (vermutlich ernährten sie sich als Teichbewohner hauptsächlich von Fisch) und ließ die Fleischreste trotzdem liegen. Wenn die Halblinge sie verschmähten, dachte Tamino gereizt – und überlegte gleichzeitig, weshalb er sich ärgerte –, würden die Käfer und Insekten am Teichufer sie schnell genug beseitigen. Er griff nach seinem Bogen und den wenigen Pfeilen, die ihm geblieben waren, band sich den Mantel um die Hüfte, löschte dann sorgfältig die letzte Glut und machte sich wieder auf den Weg.
    Tamino wanderte in Richtung Nordosten, wie die Otter-Frau ihm bedeutet hatte. Die Landschaft hatte sich völlig verändert. Er befand sich jetzt in einem dichten Wald. Bäume, wirre Ranken und das dichte Unterholz versperrten ihm den Blick. An manchen Stellen war das Grün so dicht, daß man kaum den Himmel sah. Tamino konnte nicht glauben, daß er in der letzten Nacht noch in der kahlen Wüste geschlafen hatte. Wenn es diesen Wald gegeben hätte, wäre er ihm am weiten Wüstenhorizont doch aufgefallen! Hin und wieder, der Wald wurde sehr bald zu einem wuchernden Dschungel, entdeckte Tamino mächtige Ruinen und überwachsene Ge-bäude, und mehr als einmal hörte er das wilde Fauchen einer Raubkatze.
    Beim Gehen wurde ihm immer wärmer. Selbst seine Tunika war ihm zu dick. Er wollte sie ausziehen, erinnerte sich aber daran, daß er sich
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