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Tiere essen

Tiere essen

Titel: Tiere essen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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tun?
    WAS GEWINNEN WIR , wenn an Thanksgiving ein Truthahn auf dem Tisch steht? Vielleicht schmeckt er gut, aber Geschmack ist nicht der Grund, warum er vor uns steht – über das Jahr gerechnet essen die meisten Menschen sonst nur wenig Truthahn. (Der Thanksgiving Day macht 18 Prozent des jährlichen Truthahnkonsums aus.) Und trotz der Freude, die uns üppige Mahlzeiten bereiten, geht es bei Thanksgiving nicht um das große Fressen – es geht genau um das Gegenteil.
    Vielleicht gibt es Truthahn, weil er einfach zum Ritual gehört – so feiern wir eben Thanksgiving. Warum? Weil die Pilgerväter ihn möglicherweise an ihrem ersten Thanksgiving verzehrt haben? Eher unwahrscheinlich. Wir wissen, dass sie weder Mais, Äpfel, Kartoffeln noch Cranberrys hatten, und in den beiden einzigen schriftlichen Zeugnissen über das legendäre Thanksgiving in Plymouth ist nur von Wildbret und Wildgeflügel die Rede. Auch wenn es denkbar ist, dass sie wilden Truthahn aßen, wissen wir, dass der Truthahn erst seit dem
    19. Jahrhundert ein Teil des Rituals war. Und Historiker haben inzwischen ein noch früheres Thanksgiving entdeckt als das 1621 in Plymouth gefeierte, das von englischstämmigen amerikanischen Historikern berühmt gemacht wurde. Ein halbes Jahrhundert vor Plymouth haben frühe amerikanische Siedler im heutigen Florida Thanksgiving mit Timucua-Indianern gefeiert – es scheint wissenschaftlich belegt, dass diese Siedler katholisch waren und nicht protestantisch und dass sie Spanisch sprachen und nicht Englisch. Sie aßen Bohnensuppe.
    Aber gehen wir einfach davon aus, dass die Pilgerväter Thanksgiving erfanden und Truthahn aßen. Abgesehen von der Tatsache, dass die Pilgerväter vieles machten, was wir heute nicht tun würden (und dass wir vieles tun würden, was sie nicht machten), haben die von uns verzehrten Truthähne mit den vielleicht von den Pilgervätern verzehrten ebenso wenig gemeinsam wie der immer wieder gern bewitzelte Tofurkey (vegetarischer Truthahn). Im Zentrum unserer Thanksgiving-Tische steht ein Tier, das nie frische Luft geatmet oder den Himmel gesehen hat, bis es zur Schlachtbank geführt wurde. Auf unseren Gabeln steckt ein Tier, das unfähig war, sich zu reproduzieren. In unseren Bäuchen liegt ein Tier mit Antibiotika im Bauch. Allein schon die genetische Ausstattung unserer Vögel ist ganz anders als die ihrer Ahnen. Hätten die Pilgerväter in die Zukunft sehen können, was hätten sie wohl über den Truthahn auf unserem Tisch gedacht? Vermutlich hätten sie ihn, und das ist keine Übertreibung, gar nicht als Truthahn erkannt.
    Und was wäre, wenn es keinen Truthahn gäbe? Wäre damit die Tradition gebrochen oder verletzt, wenn wir statt eines Vogels nur den Süßkartoffelauflauf, selbst gebackene Brötchen, grüne Bohnen mit Mandeln, Cranberry-Kreationen, Kartoffelpüree mit Butter, Kürbis-und Pekannusspies hätten? Vielleicht könnten wir noch timucuanische Bohnensuppe hinzufügen. Das würde gut passen. Stellen Sie sich Ihre Lieben um den Tisch versammelt vor. Hören Sie die Geräusche, riechen Sie, wie es duftet. Es gibt keinen Truthahn. Wird der Feiertag dadurch ruiniert? Ist Thanksgiving dann immer noch Thanksgiving?
    Oder würde Thanksgiving dadurch besser? Wäre die Entscheidung, keinen Truthahn zu essen, nicht ein energischerer Ausdruck unserer Dankbarkeit? Versuchen Sie, sich die Unterhaltung vorzustellen, die stattfinden könnte. Deshalb feiert un sere Familie so. Wäre eine solche Unterhaltung enttäuschend oder anregend? Würden weniger oder mehr Werte vermittelt?
    Würde der Appetit auf dieses bestimmte Tier die Freude schmälern? Stellen Sie sich die Thanksgiving-Feste Ihrer Familie nach Ihrem Tod vor, wenn die Frage nicht mehr lautet: »Warum essen wir das nicht?«, sondern das naheliegendere: »Wie konnten sie nur?« Kann der imaginierte Blick auf künftige Generationen uns durch Scham – im kafkaesken Wortsinn – zum Erinnern zwingen?
    Die Vertuschungspraktiken, durch die Massentierhaltung überhaupt erst möglich wurde, verlieren ihre Wirksamkeit. In den drei Jahren, die ich mit dem Schreiben dieses Buches verbracht habe, tauchten beispielsweise die ersten Berichte darüber auf, dass die landwirtschaftliche Tierhaltung stärker zur Erderwärmung beiträgt als alles andere. Zum ersten Mal empfahl ein angesehenes Forschungsinstitut (die Pew Commission) die allmähliche völlige Abschaffung der Intensivtierhaltung mit vielen Tieren auf kleiner Fläche. Zum ersten Mal
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