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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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den Norden der Stadt zu zeigen, in die Nähe des Flughafens, wo er wohnt.
    Er fragt: »Hast du gefrühstückt?«
    Als ich den Kopf schüttele, führt er mich in einen Imbiss undsetzt mir Teigtaschen vor.
    Er sieht mir eine Weile dabei zu, wie ich lustlos mit den Stäbchen darin herumstochere.
    Dann sagt er: »Weißt du, was ich gelesen habe? Auf jeden Menschen auf der Welt kommen über zweihunderttausend andere Menschen, die als Partner zu ihm passen.«
    Ich sage nichts.
    »Zweihunderttausend, wissenschaftlich erwiesen!« Er zeigt auf meine Teigtaschen. »Iss!«
    An diesem Tag laufe ich 11,9 Kilometer durch die Stadt, während Onkel Shen auf seinem Fahrrad neben mir herfährt und redet. Er wiederholt die Theorie von den zweihunderttausend perfekten Partnern. Er schwärmt mir von dem Wiedersehen mit meiner Familie vor, das mir bevorsteht, falls ich mich dazu entschließen sollte, nach Hause zu fahren. Und er erklärt mir, was Ürümqi so besonders macht: Es gibt keine andere Großstadt auf der Welt, die weiter vom Meer entfernt ist.
    Ich höre nicht die ganze Zeit zu. Ich gucke den Verkehr an, die Häuser und das Laub der Bäume. Der Himmel klart auf und wird blau, und es kommt mir vor wie der Herbsttag, als ich Beijing verlassen habe, vor fast genau einem Jahr. Als wäre ich im Kreis gegangen. Einmal, als ich ein altes Ehepaar sehe, das zusammen vom Einkaufen kommt, blicke ich weg. Onkel Shen soll mich nicht weinen sehen.
    Am Nachmittag stehen wir wieder vor einem Hotel. Onkel Shen hat es ausgesucht, er kennt den Besitzer.
    Er hilft mir, die Kabutze auszuladen. Ich lasse nur wenig zurück: die Trekkingstöcke, den Wasserkanister, die Fußwaschschüssel, die Gurte, mit denen ich den Rucksack festgemacht habe, das Werkzeug und die beiden Hocker.
    Die Vorräte sind ohnehin fast aufgebraucht.
    Onkel Shen fragt: »Willst du sehen, wo ich sie für dich unterstelle?«
    Ich schüttele den Kopf.
    Er bringt die Kabutze weg, und ich bin mit meinen restlichen Sachen im Hotelzimmer allein.
    Pünktlich zur Abendessenszeit kommt er wieder. Ich sage, ich habe keinen Hunger, aber davon will er nichts hören.
    Wir landen in einem uighurischen Restaurant, es gibt Reis mit Lammfleisch und Rosinen
    Er möchte ein Foto von Juli sehen. Ich lege mein Portemonnaie auf den Tisch. Im Innern ist ein Bild von uns, wir haben es in München im Passbildautomaten gemacht, als ich das letzte Mal bei ihr war. Es ist schwarz-weiß, und wir sehen darauf beide sehr albern aus. In meinem Bauch zieht sich etwas zusammen, als ich es sehe.
    »Die ist doch gar nicht so toll!«, sagt Onkel Shen und lacht übertrieben laut. »So eine findest du doch überall! Und guck dir doch mal die Nase an, die ist nun wirklich nicht sehr schön.«
    »Onkel Shen, ich danke dir. Ich weiß, was du vorhast«, antworte ich.
    An diesem Abend, nachdem mich Onkel Shen im Hotel abgeliefert hat, gehe ich nach draußen und schicke Juli eine SMS, in der steht, dass ich nach München kommen werde. Sie schreibt zurück, dass es keinen Unterschied macht, ob ich komme oder nicht.
    Ich stehe in einer kleinen Gasse. Es ist dunkel, einige Fenster sind erleuchtet, einige sind dampfbeschlagen, jemand grillt Lammspieße über Kohle, Leute laufen herum, in kleinen Gruppen, paarweise und allein, und ich stehe einsam in ihrer Mitte.
    Onkel Shen ruft an. Er fragt, wo ich bin, und beordert mich zurück ins Hotel. Wenige Minuten später taucht er an meiner Zimmertür auf. Diesmal hat er einen kleinen Hund dabei.
    »Hier, der gehört meiner Frau«, verkündet er und lässt ihn im Zimmer los.
    Der Hund ist eine hysterische braune Wurst. Ich sitze auf demBett, er kringelt sich auf dem Boden und versucht mein Bein zu begatten, und Onkel Shen sitzt in einem Sessel und schaut uns zufrieden zu.
    »Endlich lachst du mal wieder, Junge«, sagt er, während der Hund mir die Hand vollsabbert.
    Am nächsten Morgen schleppt er mich zum Frühstück.
    Er wartet, bis ich aufgegessen habe. Dann zeigt er auf meinen Kopf und sagt: »Junge, es ist Zeit.«
    Ich schlucke. Ich weiß, dass es sein muss, aber ich bin nicht genug darauf vorbereitet.
    »Ich kann das nicht«, flehe ich.
    Eine Dreiviertelstunde später sind meine Haare und mein Bart ab. Ich sitze in einem Friseursalon, mehrere Leute stehen um mich herum, sie schauen interessiert zu, während der Chef mit der Haarschneidemaschine die überstehenden Fransen kappt. Aus dem Spiegel blickt mir ein braun gebranntes, hohläugiges Gesicht entgegen. Mein Kopf fühlt sich
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