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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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roter Schaum umgab.
    Einen Moment lang glaubte er, auf einem Filmset zu sein. Es gab Gedränge, Polizisten schoben den Kameramann fort. Als Martin den Blick vom Monitor abwandte, kamen die Männer mit der Trage an der Absperrung vorbei, der schwarze Leichensack war geschlossen.
    »Was war das?«, fragte er den Techniker im Ü-Wagen. »Ein Unfall?«
    »Mehr als das«, antwortete der Techniker.

Der Beißer
    O hne Silbergeld im Portemonnaie war Beate nervös. Seit ihrer Jugend war sie dauernd zum Zigarettenautomaten gelaufen, auch nachts. Damals gab es noch Münzautomaten mit Eisenschubladen, die ratschten, wenn man sie aus dem Schacht zog. Beate riss das Cellophan von der Zigarettenschachtel, es hing an ihren Fingern, sie schüttelte es ab, es tanzte schimmernd in der Dunkelheit, während sie den ersten Zug nahm und ihrem Rauch hinterhersah. Sie sah einen Marmor aus Zukunft.
    Manchmal blieb die Schublade stecken, weil die Zigarettenmarke alle war, dann gab der Automat das Geld nicht zurück. Darum hatte Beate Münzen für einen zweiten Versuch bei einer anderen Marke dabei und oft sogar Münzen für einen dritten Versuch. Trotzdem hatte sie jedes Mal Angst, wenn sie nach dem Schub griff. Sie träumte von einer Reihe aus Münzgruppen; die zweite Gruppe war Ersatz für die erste, die dritte für die zweite, die vierte für die dritte und immer so weiter, bis die Reihe endlos war wie das All. Die vielen Münzen passten aber nicht ins Portemonnaie, weswegen Beate sich mit den Münzen unendlich viele Portemonnaies vorstellte. Und weil zu jedem Portemonnaie wiederum die eigene Person gehörte, die es trug, musste sie sich selbst in unendlicher Wiederholung fantasieren, und weil jedes Ich eine eigene Welt brauchte, mussten immer mehr Welten her, und in jeder der zahllosen Welten blieb der Zigarettenautomat in der Rockvillestraße leer.
    Damals lebte Beate zuerst bei ihrer Mutter in Pinneberg und später bei ihrem Mann in Schwetzingen. Er leitete die Einkaufsabteilung von Finkenzeller & Schwab, einem Stuttgarter Hersteller für Fruchtsaftkonzentrate und Aromastoffe, und sie zog die Tochter Tatjana groß und kaufte Möbel aus Buchenvollholz mit abgerundeten Ecken und Pferde aus Porzellan. Inzwischen war sie geschieden. Die Zigaretten holte sie längst stangenweise.
    In die Cardea hatte Beate keine Zigarettenstangen mitbringen dürfen. Sie musste die Schachteln einzeln unten im Kiosk der Klinik kaufen, der am Wochenende geschlossen war, und damit kehrte ihre Angst zurück. Schon am Donnerstag fürchtete sie, dass die Zigaretten bis Montag nicht reichen würden. Sie stellte sich eine endlose Reihe aus Zigarettenschachteln vor, die in einer endlosen Reihe aus Kiosken lagerten, aber nie erreichten die Kioske den Montag, der unendlich weit weg war.
    Sie war schon seit November hier. Die meiste Zeit verbrachte sie im Raucherraum. Der Raum war nachträglich eingezogen worden, zwischen Fitnesscenter und Stationsküche, seine Tür passte nicht zum Design der Klinik, sie hatte gelb geriffeltes Glas. Innen standen alte Sessel und Stühle, Spenden der Ginko-Company, einer Integrationsfirma für ehemalige psychiatrische Langzeitpatienten. Beate war die einzige Raucherin der Privatstation, im Raucherraum lernte sie die Kassenpatienten kennen.
    Eines Tages, es war noch vor Weihnachten, traf sie an der Tür auf eine Frau mit dürren Armen, gekrümmten Schultern und Glitzer-Make-up. Ihre Haare waren lang und stumpf. Sie trug eine ausrangierte Gitarre mit sich herum, der Klangkörper war eingedrückt und hatte Sprünge, die Saiten fehlten bis auf eine.
    »Ich bin Louise Reeder«, sagte die Frau. »Lou Reed, alles klar? Die haben mich aus dem Wintergarten verjagt. It’s so cold in Alaska.«
    Ihre Hände hielt sie senkrecht abgeknickt, als wären sie gebrochen. Die Unterarme waren sehnig.
    »Ich bin Rockstar«, sagte Lou. »Nächstes Mal bin ich in der Privatklinik. Nächstes Mal klettere ich auf den Kran und rufe die Republik aus. Don’t forget, hire a vet, he hasn’t had that much fun yet!«
    »Ja, die Privatklinik ist bald fertig«, sagte Beate. Sie wagte nicht, Lou in die Augen zu sehen. »Und sie bekommt eine eigene Kuppel. Wie die beiden Türme. Und Vosskamp wird der Chef.«
    »Die können mich alle«, sagte Lou. »Alles alle, nichts mehr da. Aber ich.«
    »Natürlich. Lass uns doch reingehen.«
    Beate öffnete die Tür, und beide betraten den Raucherraum. Durch den dichten Dampf der Zigaretten konnte Beate die anderen Patienten nur
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