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Tausche Brautschuh gegen Flossen

Tausche Brautschuh gegen Flossen

Titel: Tausche Brautschuh gegen Flossen
Autoren: Juliane Kobjolke
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entfernt wohnen, stoppe ich dort, um Momo abzuholen. Sie sind noch bei
der Arbeit, worüber ich erleichtert bin. Als ich Ihnen vor dem Urlaub mitteilte,
dass Lukas und ich getrennt verreisen – angeblich um Bastian und Nina in Zeiten
der Trennung zur Seite zu stehen –, reagierten sie misstrauisch und wenig verständnisvoll.
    Auch mein Kater begrüßt mich nicht.
Er zeigt sich nicht einmal, was mich nicht überrascht. Es spielt keine Rolle, ob
Lukas und ich drei Tage verreisen oder vierzehn, bei unserer Rückkehr haben wir
immer eine beleidigte Leberwurst als Haustier.
    Ich rufe und rufe, kein Momo erscheint.
    Ob er wieder abgehauen ist? Wie
im letzten Jahr, als Lukas und ich auf Hawaii waren? Meine Eltern sind vor Sorge
beinahe gestorben. Sie haben Fotos von ihm ausgehängt und sind nachts über benachbarte
Gartenzäune gestiegen. In einem Akt totaler Verzweiflung haben sie sogar bei der
Straßenreinigung angerufen, um sich zu erkundigen, ob ein überfahrener Kartäuser
aufgesammelt wurde.
    Wenn das Tier das noch einmal gemacht
hat, werden Lukas und ich ab sofort Urlaub mit Kater buchen müssen.
    Auf allen vieren krieche ich durch
die Wohnung. Ein Geräusch lässt mich aufhorchen, doch es ist nicht Momo, sondern
meine Großmutter, die mir aufgelauert haben muss und nun gekommen ist, um das Frage-Antwort-Spiel
zu spielen. Ich widerstehe der wirklich verlockenden Versuchung, lautlos hinter
der Couch versteckt zu bleiben, gebe mir einen Ruck und stehe auf. Meine Großmutter
erschrickt so sehr, dass sie einen Satz macht und mich verflucht – was wiederum
den Kater aus seinem Versteck scheucht. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von
200 Kilometer pro Stunde wetzt er vom Wohnzimmer ins Esszimmer und verkriecht sich
abermals, womit er den perfekten Anlass zum Stillsein gibt. Kaum hat sich meine
Großmutter beruhigt und die erste Frage zum Urlaub gestellt, lege ich also den Zeigefinger
über meine Lippen und schleiche dahin, wo ich Momo vermute. Die Bitte um Schweigen
wiederhole ich noch einige Male, denn meine Großmutter ist sehr hartnäckig.
    Als ich endlich meinen Kater im
Arm halte, muss ich ihn natürlich dringend nach Hause bringen – so verstört wie
er ist. Auch meine Großmutter ist jetzt verstört, aber sie kann warten.
     
    Zu Hause angekommen, drehe ich alle Heizungen auf und unternehme einen
weiteren, endlich erfolgreichen Versuch, den Kater versöhnlich zu stimmen. Eine
extragroße Portion seiner Lieblingscracker funktioniert immer.
    Nachdem ich die Missionen ›Katers
Gemüt besänftigen‹ und ›Koffer auspacken‹ erledigt habe, ziehe ich meine Fahrradkleidung
an, darüber noch einen Pullover und eine Jacke, und borge mir Lukas’ Schneeketten,
um sie an den Reifen meines eigenen Fahrrads zu befestigen.
    Eine halbe Stunde später bin ich
am Stadtwald – ohne Musik diesmal. Heute brauche ich alles pur: Das Knirschen des
Schnees unter den Rädern, das Krächzen der Raben und Krähen, das Kreischen einer
Motorsäge, meinen Atem, meinen Herzschlag im Ohr. Mit jedem Tritt in die Pedale
wird mein Lächeln breiter, mein Gemüt ruhiger und mein Gewissen stummer. Auf ebener
Strecke lehne ich mich im Sattel zurück, breite die Arme aus und schließe die Augen.
    »Lowenstein«, murmele ich. »Lowenstein.«
    Zurück in der Stadt bemerke ich,
während ich an einer Fußgängerampel halte, einen jungen Mann in einem Auto. Auch
er wartet auf Grün. Die Musik im Wageninneren dröhnt so laut, dass ich die Boxen
durch die Karosserie knistern höre. Natasha Bedingfield singt ›Soulmate‹. Das Ungewöhnliche
ist, der Mann weint. Bitterlich. Ihm ist egal, wer ihn sieht. Er schluchzt, dass
es ihn schüttelt, und wischt sich Tränen von den Wagen. Wäre seine Ampel nicht auf
Grün gesprungen, ich hätte mein Fahrrad hingeworfen, wäre zu seinem Fahrzeug gelaufen,
hätte die Tür aufgerissen, ihn umarmt und ihm gesagt, dass alles gut wird. Ganz
sicher.
     
    Als es 20 Uhr ist, ziehe ich mich um.
    Ich bin aufgeregt wie ein frisch
verliebter Teenager und durchwühle meinen Kleiderschrank, ohne etwas Passendes zu
finden. Einer Erleuchtung folgend, entschließe ich mich für eine neue schwarze Hose,
meine Stiefel mit den Pfennigabsätzen und mein altes Lederjackett, das seit fünf
Jahren missachtet auf dem letzten Bügel hängt.
    Unterwegs stoppe ich bei einem Supermarkt
und kaufe eine Tüte Nimm 2. Im Auto wickele ich ein orangefarbenes Bonbon aus, stecke
es in den Mund, lutsche es etwas runder und spucke es in meine Hand.
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