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Tagebücher

Tagebücher

Titel: Tagebücher
Autoren: Franz Kafka
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herum, ja schwebt nicht einmal.

    17/18 (18./19.) Mai (1910) Kometennacht

    Mit Blei, seiner Frau u. seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin.

    Wieviel Tage sind wieder stumm vorüber; heute ist der 29. Mai. Habe ich nicht einmal die Entschlossenheit, diesen Federhalter, dieses Stück Holz täglich in die Hand zu nehmen. Ich glaube schon, daß ich sie nicht habe. Ich rudere, reite, schwimme, liege in der Sonne. Daher sind die Waden gut, die Schenkel nicht schlecht, der Bauch geht noch an, aber schon die Brust ist sehr schäbig und wenn mir der Kopf im Genick

    Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Ich bin ja nicht irgendwo abseits, vielleicht in einer Ruine in den Bergen erzogen worden, dagegen könnte ich ja kein Wort des Vorwurfes herausbringen. Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären

    Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf trifft eine Menge Leute nämlich meine Eltern, einige Verwandte, einzelne Besucher unseres Hauses, verschiedene Schriftsteller, eine ganz bestimmte Köchin, die mich ein Jahr lang zur Schule führte, einen Haufen Lehrer, (die ich in meiner Erinnerung eng zusammendrücken muß, sonst entfällt mir hie und da einer da ich sie aber so zusammengedrängt habe, bröckelt wieder das ganze stellenweise ab) ein Schulinspektor langsam gehende Passanten kurz dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft. Auf diesen Vorwurf will ich keine Widerrede hören, da ich schon zuviele gehört habe und da ich in den meisten Widerreden auch widerlegt worden bin, beziehe ich diese Widerreden mit in meinen Vorwurf und erkläre nun meine Erziehung und diese Widerlegung haben mir in mancherlei Richtung sehr geschadet.

    Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen, wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen niederzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht. Es sind da meine Eltern, einige Verwandte einige Lehrer, eine ganz bestimmte Köchin, einige Mädchen aus Tanzstunden, 4
    einige Besucher unseres Hauses aus früherer Zeit, einige Schriftsteller, ein Schwimmeister, ein Billeteur, ein Schulinspektor, dann einige denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde und solche endlich, deren Unterricht ich irgendwie damals abgelenkt überhaupt nicht bemerkt habe, kurz es sind so soviele daß man acht geben muß einen nicht zweimal zu nennen. Und ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise mit einander bekannt, dulde aber keine Widerrede. Denn ich habe wahrhaftig schon genug Widerreden ertragen und da ich in den meisten widerlegt worden bin, kann ich nicht anders als auch diese Widerlegungen in meinen Vorwurf miteinzubeziehn und zu sagen daß mir außer meiner Erziehung auch diese Widerlegungen in manchem sehr geschadet haben.

    Erwartet man vielleicht, daß ich irgendwo abseits erzogen worden bin? Nein, mitten in der Stadt bin ich erzogen worden mitten in der Stadt. Nicht zum Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau; nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre
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