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Streiflichter aus Amerika

Titel: Streiflichter aus Amerika
Autoren: Bill Bryson
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Horror meiner alten Tage ist, verhaftet und gefragt zu werden: »Wo waren Sie in der Zeit von acht Uhr fünfzig bis elf Uhr zwei am Morgen des elften Dezember?« Wenn das mal passieren sollte, strecke ich brav die Hände aus, lasse mir Handschellen anlegen und mich abführen, weil auch nicht die geringste Chance besteht, daß ich darauf antworten kann. Das ist schon so, solange ich mich entsinnen kann, was natürlich nicht sehr lange ist.
    Meine Gattin hat das Problem nicht. Sie erinnert sich auf die Sekunde genau an alles, was je vorgefallen ist. Ich meine jedes kleinste Detail. Aus heiterem Himmel sagt sie plötzlich zu mir: »Vor sechzehn Jahren an einem Sonntag ist deine Großmutter gestorben.«
    »Wirklich?« erwidere ich erstaunt. »Ich hatte eine Großmutter?«
    Wenn ich mit meiner Frau draußen bin, geschieht es neuerdings auch häufig, daß jemand auf uns zukommt und freundlich vertraut mit uns plaudert, obwohl ich schwören könnte, daß ich ihn noch nie gesehen habe.
    »Wer war das denn?« frage ich, wenn er weg ist.
    »Das war Lottie Rhubarbs Mann.«
    Ich denke einen Moment nach. Ergebnislos.
    »Wer ist Lottie Rhubarb?«
    »Du hast sie bei dem Barbecue der Talmadges am Big Bear Lake kennengelernt.«
    »Ich war noch nie am Big Bear Lake.«
    »O doch. Bei dem Barbecue der Talmadges.«
    Wieder denke ich eine Minute nach. »Und wer sind die Talmadges?«
    »Die Leute in der Park Street, die für die Skowolskis das Barbecue ausgerichtet haben.«
    Langsam packt mich Verzweiflung. »Wer sind die Skowolskis?«
    »Das polnische Ehepaar, das du beim Barbecue am Big Bear Lake kennengelernt hast.«
    »Ich war bei keinem Barbecue am Big Bear Lake.«
    »Natürlich. Du hast auf einem Bratspieß gesessen.«
    »Ich auf einem Bratspieß gesessen?«
    Solche Gespräche haben wir schon drei Tage am Stück geführt, und trotzdem war ich zum Schluß um nichts klüger.
    Leider war ich schon immer zerstreut. Als Junge habe ich in einer der wohlhabendsten Gegenden der Stadt nachmittags Zeitungen ausgetragen – was wie ein Bombenjob klingt, es aber nicht war, weil erstens reiche Leute zu Weihnachten die größten Knauser sind (vor allem, das sei hier mal festgehalten, Mr. und Mrs. Arthur J. Niedermeyer in der St. John's Road Nr. 27; Dr. und Mrs. Richard Gumbel in dem großen Backsteinhaus am Lincoln Place und Mr. und Mrs. Samuel Drinkwater vom Bankhaus Drinkwater; ich hoffe, ihr seid jetzt alle im Pflegeheim) und zweitens jedes Haus am Ende einer langen, gewundenen Einfahrt eine gute Viertelmeile von der Straße entfernt stand.
    Selbst unter idealen Bedingungen hätte man Stunden gebraucht, um alle Zeitungen zuzustellen, doch so weit kam ich nie. Mein Problem bestand darin, daß mein Hirn, wie es für alle zerstreuten Menschen typisch ist, vollkommen nutzlosen Tagträumereien nachhing, während meine Beine die Runde machten.
    Am Ende fand ich grundsätzlich bei einem Blick in meine Tasche mit einem Seufzer ein halbes Dutzend übrige Zeitungen, und jede gemahnte mich an ein Haus, an dem ich gewesen war – eine lange Einfahrt, die ich hochgetrottet, eine Veranda, über die ich gelaufen war, eine Fliegengittertür, die ich geöffnet hatte –, ohne eine Zeitung dort zu lassen. Ich entsann mich natürlich nie, um welches der achtzig Anwesen auf meiner Route es sich handelte. Also seufzte ich abermals und klapperte die Häuser ein zweites Mal ab. Und so verbrachte ich meine Kindheit. Wenn die Niedermeyers, die Gumbels und Drinkwaters gewußt hätten, durch was für eine Hölle ich Tag für Tag ging, um ihnen ihre dämliche Des Moines Tribüne zu bringen, hätten sie mich dann zum Christfest genauso fröhlich um mein Trinkgeld betrogen? Wahrscheinlich ja.
    Einerlei, Sie fragen sich vermutlich nach dem Geheimnis des Alterns, das ich zu Beginn erwähnt habe. Laut des Zeitungsberichts hat offenbar ein Dr. Gerard Schellenberg am Medizinischen Forschungsinstitut für Veteranenbetreuung in Seattle den genetischen Übeltäter isoliert, der für das Altern verantwortlich ist. Offenbar ist in jedem Gen ein Enzym eingebettet, das einen Steuerungsmechanismus in Gang setzt, infolgedessen aus keinem mir ersichtlichen Grund die beiden Chromosomenstränge auseinandergezogen werden, die die DNA eines Menschen bilden, und ehe man sich's versieht, steht man am Küchenschrank und versucht sich zu erinnern, warum zum Teufel man dorthin gegangen ist. Natürlich kann ich Ihnen keine weiteren Einzelheiten nennen, weil ich den Artikel verlegt habe. Doch das
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