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Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
Autoren: Susanne Conrad
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mich zu wichtigen Orientierungshilfen geworden auf dieser Reise ins Ungewisse, die Erich Kästner so beschrieben hat:
Wir sitzen alle im gleichen Zug
Und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Von unserem Umgang mit Sterben und Tod
    Erfahrungen sind Maßarbeit.
Sie passen nur dem, der sie macht.
Carlo Levi
    Ich hatte Glück: Meine Reise mit dem Zug des Lebens begann beschaulich. Die Welt meiner Kindheit war ein behaglicher und freundlicher Ort, jedenfalls in meiner Erinnerung. Alles hatte seinen Platz, die Dinge waren, wie sie waren, einfach und klar. Die großen Konstanten waren meine Eltern, meine Brüder, ein Zuhause, in dem ich mich geborgen fühlte, eine beste Freundin, mit der ich im Heu Höhlen baute und Gummitwist hüpfte. Im Winter gab es noch Eisblumen an den Fenstern und der Holzofen bullerte. Alles war gut, und ich war sicher, dass sich daran nie etwas ändern würde.
    Wir lebten im Glottertal in der Nähe von Freiburg, in einem Zweifamilienhaus, in dem neben uns auch unsere Vermieter wohnten, Herr und Frau Kapp, ein Ehepaar, das mir uralt vorkam. Frau Kapp war eine besonders liebe, herzliche Schwarzwälderin mit knittrigem Gesicht, die mit ihrem alemannischen Dialekt Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte. Sie passte auf mich auf, wenn die Eltern abends mal weggingen, wenn sie backte, durfte ich immer die Teigschüssel ausschlecken, und bei Kapps habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ferngesehen – wir bekamen erst Jahre später einen Fernseher. Spätestens mit dem Tod von Frau Kapp wurde mir klar, dass das Leben endlich ist. Sie war ganz plötzlich zu Hause gestorben, und die Tage danach war im Haus ein einziges Kommen und Gehen – Leute, die ich noch nie gesehen hatte, kamen, um Abschied zu nehmen und Beileid zu wünschen. Am Tag der Beerdigung war Frau Kapp im Hof im offenen Sarg aufgebahrt, und ihre Familie und alle Nachbarn hielten im Wechsel Totenwache. Auch mein Vater hatte eine Stunde lang am Sarg gestanden und mit den anderen gebetet. Später würden alle Nachbarn und viele aus dem Ort hinter dem Sarg her die Dorfstraße entlang auf den Friedhof gehen. Die Menschen, an denen die Trauerprozession vorbeizog, würden sich bekreuzigen und verneigen.
    Ich kann mich noch heute an die außergewöhnliche Stimmung dieses Tages erinnern. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Während die Erwachsenen Totenwache hielten, versuchte ich, einen Blick auf die Tote zu erhaschen. Hatte sie die Augen offen oder geschlossen? Was hatte sie an? Ein Totengewand vielleicht? Ich stellte mir vor, Frau Kapp würde eine Art langes, weißes Nachthemd tragen. Konnte sie sehen, wer da alles um ihren Sarg herumstand, und konnte sie das Schluchzen der Frauen hören? Ich hatte so viele Fragen …
    Als meine Mutter hereinkam, fand sie mich mit plattgedrückter Nase am Fenster. Ich beschwerte mich über die schlechte Sicht, die ich von der Küche aus hatte, und die Ungerechtigkeit, dass alle Frau Kapp noch einmal anschauen durften, nur ich nicht. Während ich auf meinem Beobachtungsposten blieb, berieten sich meine Eltern leise im Flur und erlaubten mir dann, in den Hof hinunterzugehen. Ich solle aber nicht erschrecken, bereitete mich meine Mutter behutsam vor, Frau Kapp sähe jetzt anders aus als früher, denn sie sei ja tot.
    Frau Kapp war der erste tote Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Sie trug kein Nachthemd, sondern Tracht, ihre Augen waren geschlossen, die Nase sehr spitz, und der Mund wirkte fast ein bisschen verkniffen. Sie sah jedenfalls sehr streng aus, nicht so lieb und freundlich wie früher. War das überhaupt noch Frau Kapp oder war sie schon im Himmel? Und wie konnte sie da oben sein, wenn sie doch hier vor mir lag? Jemand sprach von ihrer Seele, die jetzt »heimgegangen« sei zu Gott – aber was war das überhaupt, die Seele? Ein körperloser Geist, eine Art Gespenst vielleicht?
    Als Sieben- oder Achtjähriger war mir klar, dass ich – jedenfalls aller Voraussicht nach und wenn ich mir nichts weiter zuschulden kommen ließ – wie all die anderen Menschen, die ich kannte, in den Himmel kommen würde. Dort gäbe es dann ein Wiedersehen, eine Art riesige Familienfeier. Aber in welchem Alter, in welchem Zustand würden wir uns da begegnen? Wären wir Kinder oder Greise oder alle gleich alt? Gesund oder krank? Wären wir nur seltsame Seelenwesen und immer fröhlich oder, wie auf der Erde, auch mal traurig oder
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