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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste
Autoren: Ingeborg Bayer
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es über Tage hinweg beobachtet, vor allem wie die beiden Eltern die Jungen fütterten.«
    »Aber sie piepsen ganz schrecklich«, erregte sich Moise. »Du kannst sie in der ganzen Straße hören. Sie betteln nach ihrem Fressen. Sie haben Hunger.«
    »Und die Eltern werden es ihnen bringen«, versuchte Lea Moise zu beruhigen. »Die Eltern hören es, wenn die Jungen schreien.«
    »Aber es ist bald Nacht«, flüsterte Moise angstvoll, so, als sei Lea für dieses Piepsen verantwortlich. »Und sie werden die Jungen nicht mehr sehen. Die Kleinen werden verhungern.«
    »Aber hören werden sie sie. Du wirst sehen, dass sie morgen früh wieder piepsen, das wird dann noch ein paar Tage so gehen und dann sind sie groß genug, um sich ihre Nahrung selber zu holen. Geh schlafen jetzt, es ist auch für dich Zeit, zu Bett zu gehen. Geh nach oben«, sagte Lea sanft und schob Moise zur Haustüre.
    Moise wehrte sich und stampfte mit dem Fuß.
    »Ich will nicht ins Bett, ich will die kleinen Vögel hören«, sagte er zornig. »Ich will sehen, ob sie ihr Futter bekommen. Erst dann kann ich ins Bett. Wenn sie nicht mehr piepsen und satt sind und nicht verhungern.«
    »Du wirst jetzt die Stiegen hinaufgehen und dich für die Nacht richten«, wiederholte Lea, diesmal um eine Spur härter.
    »Wenn du mich dazu zwingst, werde ich übertreten«, sagte Moise weiß vor Zorn im Gesicht und machte ein Kreuz vor der Brust, verkehrt herum.
    Crestina erstarrte und blickte Lea entsetzt an.
    »Was soll das denn?«
    »Das kenne ich schon«, sagte Lea seufzend, keinesfalls sonderlich besorgt. »Damit droht er mir nicht zum ersten Mal. Sobald er etwas gegen seinen Willen tun soll, will er übertreten. Obwohl er überhaupt nicht weiß, was das bedeutet. Er weiß nur, dass es für Juden etwas Schlimmes ist.«
    »Und woher hat er das?«
    Lea seufzte. »Von irgendwelchen Jungen in der Jeschiwa, ich weiß nicht genau von welchen. Es gibt da eine Gruppe, die das Ghetto in Atem hält mit ihren Streichen. Jungen, die gerade vor der Bar-Mizwa stehen und jetzt vehement darüber diskutieren, ob sie den roten Hut tragen wollen, zu dem man die Juden gezwungen hat, oder nicht. Es spielt sich genau das Gleiche ab wie damals bei Samson.«
    »Aber Moise ist doch von dreizehn noch meilenweit entfernt«, sagte Crestina kopfschüttelnd.
    »Natürlich ist er das, aber da gibt es einen aus dieser Gruppe, der es auf Moise abgesehen hat, der ihm verrückte Gedanken in den Kopf setzt, ihn aufmüpfig macht. Er hat ganz offensichtlich Sachen erzählt, über die Moise mit mir nicht reden will, sodass ich ihm auch nicht helfen kann, weil ich überhaupt nicht weiß, worum es geht.«
    »Kannst du nicht zu den Eltern gehen?«
    »Er hat nur noch eine Mutter, und die ist eine ziemlich kranke Frau. Mehr oder weniger erzieht die Großmutter das Kind.«
    Crestina blickte ziellos über den Platz.
    »Hältst du es eigentlich für denkbar, dass ich übertrete?«, sagte sie dann zögernd. »Ich meine nicht heute, auch nicht morgen. Irgendwann, eines Tages.«
    Lea starrte sie schweigend an.
    »Übertreten? Du meinst zu unserer Religion übertreten?«, fragte sie nach einer Weile, nahezu verstört.
    Crestina nickte, wusste aber gleichzeitig, dass es eine unsinnige Idee war. So unsinnig wie Moises Idee, wenn er das Kreuz schlug.
    »Man muss dreimal anklopfen«, sagte Lea langsam. »Man muss Hebräisch können, die Thora lesen und vieles andere mehr.«
    »Hebräisch wäre kein Problem, das wäre das Leichteste. Leonardo druckt hebräische Bücher.«
    Lea seufzte. Sie näherten sich einer Gruppe Kinder, die Fangen spielte, und ein paar tollenden Hunden.
    »Wenn es wegen der Wiedergeburt ist, wird es dir nicht viel helfen. Der Messias kommt nicht von heute auf morgen.«
    »Aber er kommt doch«, sagte Crestina eindringlich, »du glaubst doch daran?«
    Die Kinder rasten um ihre Beine, ein Seil flog über ihren Kopf, und einer der Hunde raufte sich vor ihren Füßen mit einem anderen Hund um einen Knochen.
    »Ich fürchte, wir müssen unser Gespräch ein andermal weiterführen«, sagte Crestina und wandte sich zum Gehen. »Es war ohnehin unsinnig, darüber zu reden. Ich weiß nicht mal, wieso ich gerade jetzt auf diese Idee kam.«
    Lea ergriff ihren Arm.
    »Hör zu, auch ich hatte einmal diese schreckliche Angst, du kannst dich sicher erinnern, auch wenn wir uns damals noch kaum kannten. Ich hatte Angst vor den Sternen, von denen ich glaubte, dass die cattaveri sie an den Himmel gesetzt hatten, um mich
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