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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste
Autoren: Ingeborg Bayer
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machen wollte, nicht zum Ghetto gehörte und sich daher auch nicht der Prozedur des Eintragens unterwerfen musste, atmete sie erleichtert auf. Sie überquerte den großen Platz, das ghetto nuovo , mit seinen unzähligen Verkaufsbuden und den drei Banken fast in Gelassenheit, so, als sei sie hier sicher, auch wenn sie nicht zu den Bewohnern dieses Stadtteils gehörte. Die wenigen Stufen über den Rio di Agudi nahm sie dann wieder im Eilschritt, weil sie es kaum erwarten konnte, ›heimzukommen‹, wie sie es bei sich nannte. Sie blieb auf der einzigen breiten Straße, die an der Midrasch des Leon Modena vorbeiführte und schließlich zu Leas kleinem Buchladen gegenüber der spanischen Synagoge. Sie ging diesen Weg mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, und sie war gewiss, dass sie ihn auch bei Nacht gefunden hätte, wenn das Ghetto zu jener Zeit nicht verschlossen gewesen wäre. Sie ging diesen Weg seit fünf langen Jahren nahezu täglich, da der Laden für sie in jener Zeit der einzige Ort gewesen war, an dem sie Trost gefunden hatte.
    Als sie die knarrende Tür zu Leas Laden öffnete, wischte sie sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Sie sog den vertrauten Geruch dieses Raumes ein, der stets nach alten Lederbuchrücken und getrockneten Rosenblättern duftete, die Lea in einer Schale aufgestellt hatte. Und sie hatte jedes Mal von neuem das Gefühl, ›nach Hause‹ zu kommen. Wie zu einer Mutter, die Lea in der Vergangenheit für sie gewesen war, obwohl sie es dem Alter nach gewiss nicht sein konnte.
    Lea war gerade dabei – wie meist zu dieser Tageszeit kurz vor der Dämmerung –, in ihren Buchregalen Staub zu wischen. Imaginären Staub, wie ihr Sohn Samson stets spottete, da es so viel Staub gar nicht geben könne, wie Lea es immer behauptete. Und da seine Mutter bei dieser Tätigkeit stets auf einem mehr als wackeligen Schemel zu stehen pflegte, von dem sie mehr als einmal unsanft heruntergefallen war, sorgten ihre Kinder sich gewiss zu Recht.
    »Du wirst dir eines Tages das Kreuz brechen«, hatte ihr zweiter Sohn, Aaron, der inzwischen zum Studium ins Heilige Land gezogen war, immer gesagt. »Hinten hast du schließlich keine Augen.«
    Aber Lea behauptete, durchaus auch hinten Augen zu haben und immer sofort zu wissen, wer den Laden betrat, auch wenn sie den Betreffenden nicht sah. So auch diesmal und ohne sich dabei umzudrehen.
    »Was ist los mit dir, geht es dir nicht gut? Du öffnest die Tür anders als sonst.«
    Erst jetzt wandte sie sich um, stieg rasch von ihrem Schemel herab und blickte in Crestinas Gesicht.
    »Was ist passiert? Du siehst aus, als sei der Leibhaftige hinter dir her«, sagte sie alarmiert. »Haben sie dich diesmal auf der Lagune bei Nacht geschnappt? Ich habe dich ja immer gewarnt, dass dies ganz gewiss keine Tätigkeit für eine Frau ist.«
    Crestina ließ sich auf einen der unzähligen Bücherstapel fallen.
    »Fast«, erwiderte sie dann atemlos und ballte die Hände zu Fäusten. »Nur fast. Aber nicht auf der Lagune. Und auch nicht mit geschmuggelten Büchern.«
    »Was bedeutet ›fast‹?«
    »Ich habe ihn gesehen«, flüsterte sie. »Er ist wieder in der Stadt.«
    Lea war sichtlich erleichtert. Sie schob den Vorhang zu Abrams Hinterstübchen beiseite und schob Crestina hinein.
    »Ich dachte schon, es seien die Neri.«
    Dann nahm sie ein kleines Schild vom Tisch, schloss die Ladentür und hängte das Schild daran, sodass man es von draußen sehen konnte.
    »Ich habe heute morgen Kichlech gebacken, und Diana hat vorhin Tee gemacht.« Sie holte zwei Becher aus dem Regal, stellte die Kichlech vor Crestina und nickte ihr aufmunternd zu.
    »Wo hast du ihn gesehen?«, fragte sie dann, ohne einen Namen zu erwähnen. Über Bartolomeo hatten sie in den vergangenen Jahren so viele Gespräche geführt, dass sie manchmal glaubte, sie kenne diesen Menschen so gut, dass sie jede Falte seines Gesichtes beschreiben könne. Sie war sich sicher, dass nur er diesen Zustand bei der Freundin ausgelöst haben konnte.
    »Auf der piazzetta «, sagte Crestina und kippte hastig, als sei sie am Verdursten, den Tee hinunter.
    »Und du bist sicher, dass er es war? Du weißt, mit Kutte und Kapuze sehen alle Mönche gleich aus.«
    Crestina nickte heftig und verschüttete dabei den Tee auf ihr Kleid.
    »Ich bin ganz sicher. Und außerdem trug er keine Mönchskleidung. Vermutlich. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, was er trug«, schob sie dann ratlos nach. »Es ging alles so rasch, und ich war wie
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