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Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Titel: Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Autoren: Joachim Kaiser
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ein sehr guter Geiger. Eines Abends, ich war vier oder fünf Jahre alt, spielte er mit Freunden das Klarinettenquintett von Brahms. Als am nächsten Morgen das Dienstmädchen – damals, Mitte der 1930er Jahre, gab es noch Dienstmädchen – mir die Schuhe zuschnürte, sang ich leise vor mich hin. Mein Vater kam zufällig dazu, horchte auf und sagte: »Jochen, sing das doch noch mal!« Daraufhin sang ich das Hauptthema vom Brahms’schen Klarinettenquintett noch mal. Da war der Alte ganz selig.
     
    Die Auffassung, die Musik des 1833 in Hamburg geborenen Komponisten sei zu akademisch und zu dick aufgetragen, ist weit verbreitet; sie erklärt sich meines Erachtens unter anderem auch historisch. Zeitgenossen hatten Brahms zum »legitimen Nachfolger Ludwig van Beethovens« ernannt, woraufhin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Streit zwischen den Freunden der konservativen, absoluten Musik und den sich als fortschrittlich betrachtenden »Neudeutschen«
entbrannte. Die neudeutsche Gruppe wurde angeführt von Richard Wagner und Franz Liszt, die bezweifelten, dass Brahms’ Kompositionen an die Kunst von Beethoven heranreichen können. Als der junge Brahms, der ein glänzender Klavierspieler war, Wagner die Händel-Variationen (opus 24), persönlich vorstellte, kommentierte dieser noch gönnerhaft: »Da sieht man doch, was mit diesen alten Formen noch zu machen ist, wenn jemand kommt, der sie behandeln kann.« Aber später hatte Wagner mit seinem konservativen Gegner kein Mitleid mehr und warf ihm vor, einerseits in der Barockperücke aufzutreten, andererseits so zu tun, als bewege er sich in »neuen Bahnen«. Er beherrsche keine eigene, wirkliche Sprache, und in seinen Symphonien gebe es zu viele idyllische, unsymphonische Themen. In all diesen Bemerkungen klang der Vorwurf des Eklektizismus mit. Der Musikkritiker, Komponist und Wagnerianer Hugo Wolf wiederum prägte die Formel von der »Brahms’schen Melancholie des Unvermögens«.
    Allerdings ist überliefert, dass der junge Hugo Wolf in einer Brahms-Uraufführung nervös aufstöhnte: »Jo, mir gfallts, mir gfallts.« Und Anton Bruckner, nach Brahms’ Musik gefragt, urteilte: »Respekt, Respekt, aber meine Sachen sind mir lieber.«
    Neben all diesen prominenten Brahms-Kritikern hat es immer auch eine große und stets wachsende Zahl von Brahms-Bewunderern gegeben. Die Verehrung galt vor allem seinem symphonischen Werk. Die Erste Symphonie ist ja gewaltig, der Inbegriff einer
großartigen Finalsymphonie. Die Einleitung zum ersten Satz fängt noch mit einem chromatischen Thema an, das an Wagners Tristan und Isolde erinnert. Beim Schluss, einem großartigen Jubelfinale, erklingt der Beethoven’sche Ton der Neunten Symphonie , weshalb der Kapellmeister Hans von Bülow diese Symphonie auch »Beethovens Zehnte« nannte.
    Lyrischer, melodischer kommt die Zweite Symphonie daher, mit einem wunderbar inspirierten langsamen Satz. Die philosophischste Brahms-Symphonie scheint mir die Dritte zu sein, sie wird von einem Leitmotiv durchzogen. Nicht zu vergessen die Vierte Symphonie, über deren Kopfsatz der Dirigent Leonard Bernstein sogar eine dreißig Seiten lange Analyse geschrieben hat. Sie entlarvt ihn als großen Brahms-Bewunderer.
     
    Wer sich unbedingt über Brahms beschweren will, findet natürlich in seiner Musik den einen oder anderen Anlass dazu. Werden seine Kompositionen zu schwermütig, schwerfällig aufgeführt, kann es passieren, dass das Sauertöpfische, Bedrückte, depressiv Kreisende sich allzu sehr in den Vordergrund drängt und man anfängt, sich nach Mozarts Leichtigkeit und Spiritualität zu sehnen. Aber das ist ungerecht. Zumal zahlreiche vorzügliche Brahms-Interpreten die Magie und Tiefgründigkeit der Brahms-Musik regelmäßig unter Beweis stellen. Wenn ein großer Mezzosopran das Brahms’sche Lied Von ewiger Liebe singt; wenn Anne-Sophie Mutter, Ginette Neveu oder Fritz Kreisler
das Brahms’sche Violinkonzert spielen. Oder wenn Arthur Rubinstein, der natürlich Chopin-, aber auch Brahms-Liebhaber war, wenn er die Klavierstücke vorträgt. Wunderbar!
     
    Das letzte Wort in der Brahms-Streitfrage soll Joseph Joachim gegeben werden, dem legendären jüdischösterreichisch-ungarischen Violinisten. Er meinte, Brahms sei nicht nur der legitime Nachfolger von Beethoven, er sei sogar besser als Beethoven. Tusch!

Der stumme Schrei
    Warum lassen sich Opernkritiker immer
wieder detailliert über die Inszenierung aus,
behandeln aber nur knapp
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