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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage
Autoren: Ronald Reng
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Gegentor in Köln trifft dich keine Schuld, da wirst du durch einen Doppelpass ausgespielt, jeder wäre chancenlos gewesen. Juri, das musst du auch mal laut in der Kabine sagen, du musst dich wehren: Ich war da nicht schuld!
    Juri wartete, bis Herr Höhers leidenschaftliches Plädoyer vorüber war. Sie saßen auf der Bank vor dem Bolzplatz, ihrem Ferientrainingsplatz. Vor den Toren war das Gras verschwunden. Neben der Bank hatte Heinz Höher sein neues Elektrofahrrad geparkt. Sie hatten ihm ein künstliches Knie einsetzen müssen. Der Bundesligafußball machte sich 40 Jahre später erst richtig bemerkbar.
    Er müsse ihm etwas erzählen, sagte Juri. Heinz Höher schreckte auf. Ihm kam vor, dass Juri noch nie ungefragt das Wort an ihn gerichtet hatte.
    Jugendliche belästigten seine Frau und ihn seit Tagen in der Wohnung in Langwasser. Sie warfen nachts Steine gegen die Scheiben, grölten Unflätigkeiten und drohten, in die Wohnung einzusteigen. Er habe Angst, wenn er zu Spielen unterwegs war und seine Frau und die Tochter alleine zu Hause blieben.
    Heinz Höher fuhr nach Langwasser. Unter den sechsstöckigen Wohnblocks in der Salzbrunner Straße ragte das Haus mit Juris Wohnung als einziger Neubau heraus. Vor dem Nachbarblock war der Rasen gepflegt, die Fassade schön gestrichen. Auf der Hinterseite waren die Balkone aus nacktem Beton, ein Einkaufswagen und ein verrosteter Grill lehnten zwischen anderem Müll an der Hauswand.
    Heinz Höher betätigte sich als Detektiv. Offenbar handelte es sich bei den Halbstarken um eine Gruppe Jungen, die nachts im Keller eines Nachbarblocks mit Alkohol experimentierten, fand er heraus. Hatten sie Juri bewusst herausgepickt, wussten sie, wer er war, war er durch seine lokale Prominenz ein interessantes Opfer? Es musste so sein.
    Herr Höher ging mit Juris Frau auf der Wiese hinter dem Haus auf und ab. Sie war entschlossen wegzuziehen; aufs Land, wenn die Stadt so war. Herr Höher hörte aufmerksam zu, er ließ hier und da ein tröstendes Wort einfließen und war von sich selbst angenehm überrascht: Er konnte das ja, mit anderen reden, zuhören, verständnisvoll sein.
    Einen Tag später stand Juri nicht mehr in der Startelf. Timothy Chandler, ein schneller 20-Jähriger, übernahm seinen Posten. Chandler spielte, wie die Leute sich einen Außenverteidiger vorstellten, ständig preschte er über den Flügel nach vorne. Jetzt kam alles zusammen, fuhr es Heinz Höher durch den Kopf.
    Innerhalb von vier Wochen hatte Juri seine Wohnung verkauft und zog aufs Land nach Zirndorf. Nachts zerkratzte jemand sein Auto. Sicher waren es Fans, die seine Spielweise nicht mochten, dachte Juri, die Fans haben mich nie richtig gemocht, weil ich aus Fürth kam.
    Heinz Höher humpelte mit seinem frisch operierten Knie in die Stadt, um für Juri ein Notizbuch zu kaufen. Juri sollte all seine Gedanken aufschreiben, ordnen, Schreiben half, glaubte Heinz Höher. Doris wurde zornig: Wieso hatte er ihr nicht gesagt, dass er ein Notizbuch brauchte, sie hätte es genauso gut aus der Stadt mitbringen können, aber nein, er musste mit seinem lädierten Knie losmarschieren und natürlich auch noch ohne Krücken, weil er zu eitel war, sich auf Krücken zu zeigen!
    Selbstverständlich ahnte auch sie, warum Heinz Höher selbst in die Stadt gehumpelt war. Er hatte nicht nur ein Notizbuch gesucht, sondern das Gefühl, jede Anstrengung für Juri zu unternehmen.
    Der Platz als rechter Außenverteidiger im Team war erst einmal verloren. Zwei Jahre lang war Juri Judt als Allzweckspieler mal hier, mal dort in der Bundesliga eingesetzt worden, dann hatte er drei Viertel einer Saison wie ein etablierter Spieler gewirkt, und nach einer Verletzung sowie einem unglücklichen Spiel wurde aus ihm ein kaum noch gebrauchter Ersatzmann. Es war eine klassische Bundesligakarriere im Jahr 2011.
    In den Siebzigern hatte es rund 250 Fußballer gegeben, die sich wirklich als Bundesligaprofis fühlen durften, vierzehn pro Team. Wer einmal zu diesem Kreis gehörte, blieb in der Regel jahrelang dabei. 35 Jahre später gab es gut 600 Profis, die sich als Bundesligaprofis fühlten, 25 pro Verein und sicher hundert, die nach zwei, drei halbwegs hoffnungsvollen Bundesligajahren nun in unteren und ausländischen Ligen oder als Arbeitslose auf die Rückkehr warteten. Spielen konnten aber weiterhin immer nur rund 250. So bildete sich eine Schicht von Profis, die nach einem langen, meist kontinuierlichen Aufstieg eine Größe in der Bundesliga wurden
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