Spiel mir das Lied vom Glück

gewartet hatte. Dabei hatte sie Hunderte anderer Menschen leiden hören, deren Standort aber nicht bestimmen können. Der Kummer brachte sie fast um den Verstand.
    Doch irgendwann seien meine Hilferufe zu ihr durchgedrungen. Sie erzählte mir, der Ruf sei ganz schwach und fern gewesen, aber sie habe meine Stimme erkannt und sei sofort zu Tante Lydia gefahren.
    Sie hatte mich vor einer Vergewaltigung und vielleicht sogar vor dem Tode gerettet. Dann rettete sie mich vor Roberts Anwälten, die zur Verteidigung ihres Mandanten alle möglichen Lügen auffuhren. Die Anwälte von Carolines Familie übernahmen die Sache und erklärten in den Medien, was sie mit Roberts Familie zu tun gedächten, und schwupps, kehrte Ruhe ein.
    Da Polizeichef Sandstrom für die strafrechtliche Verfolgung zuständig war und nicht die Absicht hatte, seinen Häftling davonkommen zu lassen, arbeitete die Justiz rasch. Robert wurde Gast des Vollzugssystems von Oregon. Später erfuhr ich, dass er ein schlechter Häftling war und einen Großteil seiner Haft in der Isolationszelle absaß.
    Nicht mal Mami und Papi konnten ihn dort rauskaufen.
    Dean, Stash, Tante Lydia, Katie, Scrambler, Caroline, Lara, Jerry und ich verbrachten ziemlich viel Zeit mit Martin und Shirley Caruthers, die Caroline nach ihrem Inselurlaub besuchen
kamen. Es waren ihre Eltern gewesen, die Caroline auf dem Titelblatt der Zeitschrift im Supermarkt gesehen hatte.
    Anfänglich war es sonderbar, mit Menschen zusammen zu sein, die auf Titelblättern landeten, aber es stellte sich heraus, dass die Caruthers nette Leute waren, die ihre Tochter liebten, aber nicht so richtig verstanden. Martin und Shirley hatten eine bettelarme Kindheit gehabt. Sie lernten sich in der sechsten Klasse kennen und heirateten mit achtzehn, ohne einen einzigen Penny zu besitzen. Aber Shirley kannte sich mit Computern aus, und Martin hatte Ahnung von Geld. So bauten sie gemeinsam ein Unternehmen auf.
    Die beiden konnten nicht verstehen, warum ihre Tochter sich für ein Leben in Armut entschieden hatte, schließlich hatten sie hart gearbeitet, um das hinter sich zu lassen. Dennoch liebten sie Caroline abgöttisch.
    Zwei Wochen lang blieben die Caruthers in Golden. Martin half Stash auf der Ranch. Shirley und Caroline halfen Tante Lydia und mir bei der Schokolade. Ich wollte nicht, dass Shirley meine Gedanken las, aber eines Tages sagte sie zu mir: »Keine Sorge, Julia. Ich versuche nicht, deine Gedanken zu lesen. Ich wäre nie so respektlos.«
    Als wir die Zutaten für Schoko-Nuss-Riegel mischten, erklärte Shirley mir: »Was ich kann, ist viel leichter zu handhaben als Carolines Gabe. Meine größte Hoffnung ist, dass sie sie eines Tages verliert. Zu wissen, dass furchtbare Dinge geschehen werden, ohne sie aufhalten zu können, die Angst der Menschen zu spüren, das ist einfach schrecklich für sie.« Shirley wischte sich die Augen.
    Tante Lydia sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und murmelte vor sich hin, sie würde Carolines sogenanntes Talent in ein anderes Universum verfluchen. Ich wusste, was wir an unserem nächsten Psycho-Abend tun würden.
    Wir pokerten, doch am Ende ihres Aufenthalts bei uns weigerten
sich die Caruthers, noch einmal mit Tante Lydia oder Stash zu spielen. Ich fragte Shirley, warum sie nicht einfach die Gedanken der Mitspieler lese.
    Sie sah entsetzt drein: »Das wäre doch gemogelt!«
    Ms. Cutter von der Bücherei wurde meine Nachfolgerin in der Lesestunde, Roxy Bell ihre begeisterte Helferin.
    Zuerst soll Ms. Cutter etwas steif gewesen sein. Aber dann besuchten Shawn und Carrie Lynn sie jeden Tag in der Pause, und aus irgendeinem Grund gab ihr das Selbstvertrauen. Bald verkleidete sie sich als Königin, wenn sie Märchen vorlas, oder als Bäuerin, um Tiergeschichten vorzustellen. Sie holte Leute von der Feuerwehr und der Polizei, als sie Feuerwehr- und Polizeigeschichten vorlas. Sie holte noch weitere Gastleser, und einer von denen brachte Reptilien mit. Eine Schlange entwischte. Man suchte sie eine Woche lang.
    Ms. Cutter fand sie schließlich bei den Liebesromanen.
    Der Reptilienmann schien nach Roxy Bells Beobachtung in Ms. Cutter verschossen zu sein und wurde danach jeden Monat einmal eingeladen. Das Ganze war sehr aufregend.
    Ms. Cutter nahm immer noch intensiv am Leben von Shawn und Carrie Lynn teil, besuchte beispielsweise ihre Musikvorführungen in der Schule, den Tag der offenen Tür und alle Abendessen, zu denen wir sie einluden. Immer brachte sie jedem ein Buch als