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Späte Heimkehr

Späte Heimkehr

Titel: Späte Heimkehr
Autoren: Di Morrissey
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Fahrbahn stand. Gwen ging langsam auf die andere Seite hinüber und sank im Café auf einen Stuhl. Es brachte sie schier um den Verstand, zu wissen, dass er so nah war und seine Familie doch nicht sehen durfte. Gwen hatte sich mehrmals mit Mrs. Anderson getroffen, die ihr berichtete, was für ein aufgeweckter und fröhlicher Junge Richie war, wie er die Farmarbeiter mit seinen Streichen begeisterte und dass er bereits im Internat angemeldet war, das er mit acht Jahren besuchen würde. Falls Phillip Holten etwas von diesen Treffen wusste, schenkte er ihnen jedenfalls keine Beachtung. Mr. und Mrs. Anderson liebten Richie über alles. Phillip Holten weigerte sich dagegen, auf seinen Enkel einzugehen und sich über die Gesellschaft des Kindes zu freuen. Stattdessen vergrub er sich auch weiterhin in die Trauer um seine Frau und seinen Sohn.
    Phillip litt allein. Mit den Andersons, dem Kindermädchen oder den Arbeitern auf der Farm sprach er nicht mehr als nötig. Abends saß er stundenlang einsam in der Bibliothek. Seit der Junge größer geworden war, nahm er das Abendessen mit ihm ein, um seine großväterlichen Pflichten zu erfüllen, aber abgesehen davon, dass beide sich an diese Regelung gewöhnt hatten, konnte man nicht behaupten, dass sie besondere Freude dabei empfanden. Phillip fühlte sich unwohl, weil er mit der kleinen Gestalt am anderen Ende der Tafel nichts anfangen konnte. Seine Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, wirkten angestrengt und ähnelten eher einer höflichen Befragung denn einer Unterhaltung.
    Richie fühlte sich in Gegenwart dieses autoritären Mannes, der so kalt und humorlos wirkte, ebenso unwohl. Meistens nutzte Phillip die Gelegenheit, um erzieherisch auf seinen Enkel einzuwirken und ihm Manieren beizubringen. Richie hingegen beschäftigte sich während der Mahlzeiten heimlich mit einem Spiel, das er von Jim Anderson gelernt hatte. Er versuchte, sich alle Gegenstände im Raum genau einzuprägen, und fügte seiner Liste jeden Abend ein weiteres Objekt bei. Wenn er dann am nächsten Tag in seinem Lieblingsversteck in der Scheune saß, versuchte er sie alle wieder aufzuzählen. Gelegentlich suchte er sich dabei einen Gegenstand aus, für den er noch kein Wort wusste, und dann erkundigte er sich leise bei seinem Großvater danach. »Welches Glasding meinst du, Richard?«, fragte Phillip überrascht und drehte sich suchend zum Beistelltisch um. »Ach, das. Das ist eine Karaffe. Man füllt Portwein hinein. Wenn du erwachsen bist, darfst du auch einmal Portwein trinken.« Der Junge fragte sich, was Portwein war, hob sich diese Frage jedoch für einen anderen Abend auf. Für Phillip waren diese kurzen Gespräche der Höhepunkt der Mahlzeit und hoben seine Laune beträchtlich.
    Aber an den meisten Abenden saß er nach dem Essen allein in seinem Arbeitszimmer und empfand es als zunehmend schwieriger, die düsteren Gedanken abzuwehren, die ihn zu ersticken drohten. Er wusste, dass er sich dem Jungen gegenüber offener verhalten sollte, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, weil er fürchtete, damit wieder die alten Wunden aufzureißen. Der Schmerz war leichter zu ertragen, wenn er den McBrides die Schuld am Tod von Barney und Enid gab. Aber in letzter Zeit durchzuckte ihn immer öfter der schreckliche Gedanke, dass er für den Tod der beiden verantwortlich sein könnte … er hatte seinem Sohn den Rücken zugekehrt und ihn in den Tod geschickt … sich geweigert, den innigsten Wunsch seiner Frau zu erfüllen, weshalb sie allen Lebenswillen verlor und starb. Seine Schuld war nicht wie erhofft gesühnt worden, indem er Richie nach Amba geholt hatte. Es gab keine Hoffnung auf Erlösung, keinen Seelenfrieden. Nichts, was den Schmerz lindern könnte.
    Er dachte an seinen strengen und unerbittlichen Vater zurück, den er kaum gekannt hatte, und machte sich bewusst, wie wenig er von seinem eigenen Sohn gewusst hatte und nun von seinem Enkel. Die Geschichte wiederholte sich, aber er fühlte sich außer Stande, den Kreislauf zu durchbrechen.
     
    Am vierten Advent sah Sarah Pemberton nach der Kirche noch bei den McBrides vorbei. Wie sehr die Familie mittlerweile doch zu Anglesea gehörte. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie sie die Arbeit ohne sie geschafft hatten. Hoffentlich haben sie nicht vor, jemals wegzuziehen, überlegte sie sich.
    »Was machen die Weihnachtsvorbereitungen, Gwen? Bestimmt hat wieder der halbe Landkreis bei Ihnen Kuchen bestellt.«
    Bevor Gwen antworten
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