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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal
Autoren: Christian Mähr
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Krümmung, aber hier war es passiert. Es hätte einen Kilometer vor oder nach dieser Stelle genau so passieren können. Jeder, der sein fünf Sinne beieinander hatte, würde unter diesen Bedingungen die Straße in den Bregenzer Wald meiden oder spätestens beim ersten abgebrochenen Stück umkehren.
    Er zögerte, trat nicht an die Kante heran. Er hatte nur den Jaguar vor sich gesehen, nicht den Kleinwagen dieser Frau; erst die Frau, dann Semmler, dann er selber, das war Zufall, es hätte auch heißen können: Koslowski, Semmler, unbekannte Frau. Oder unbekannte Frau, Koslowski, Semmler. Wie wäre es dann ausgegangen? Das war nun wiederum von keinem Zufall abhängig: Ganz sicher wäre Paul Koslowski nicht in die hochgehende Ach gesprungen, um die unbekannteFrau zu retten. Nicht einmal eine Frau von beliebig intensivem Bekanntheitsgrad hätte er gerettet. Nicht einmal seine eigene Frau. Koslowski hatte die Fähigkeit, sich die Dinge in allen Folgewirkungen bis in die letzten kausalen Verästelungen vorzustellen; er konnte das nicht nur, sondern er musste es tun, die Dinge zu Ende denken. Es war ein Fluch, keine Gabe. Nur deshalb kam er auf den Einfall, Ursula an die Stelle dieser völlig belanglosen Frau, die ihm nichts bedeutete, zu setzen – und sich einzugestehen, dass er sie hätte ersaufen lassen. Ja, händeringend und weinend (sicher hätte er geweint dabei, herzzerreißend, so gut kannte er sich), aber eben summa summarum untätig. Warum? Weil nur ein Irrer da hinein springen würde. Es war lebensgefährlich. Die Feuerwehr würde davor warnen. Es nicht gutheißen, nein, nein. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn Laien ... nur ein Irrer ... seine Gedanken verhedderten sich.
    Alles ein Spiel des Zufalls. Nicht er war als zweiter der Reihe gefahren und nicht Ursula als erste. Nicht Ursula war in den reißenden Fluss gefallen, sondern eine Unbekannte. Und Semmler als zweiter hatte sie ohnehin herausgezogen, das war doch, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, die beste Variante von allen.
    Er sog tief die Luft ein, klar, feucht und kühl nach der Hitze. Sie roch nicht mehr nach Staub und Ozon wie die Wochen zuvor, alles ausgewaschen. Wo das Ozon geblieben war, wusste er nicht, der Staub des langen August trieb als brauner Dreck im Hochwasser der Flüsse auf die Nordsee zu. Vorsichtig, beinahe in der Straßenmitte, bewegte er sich auf die Stelle zu, an der Semmler die Frau herausgezogen hatte. Dort wagte er einen Schritt auf den Rand. Es konnte objektiv nicht so gefährlich sein, wie es aussah,Semmler war reingesprungen und heil wieder herausgekommen, ganz an der Kante war die Strömung schwach, musste schwach sein, das konnte man logisch ableiten, sonst hätte die Flut Semmler fortgerissen, das war kein Supermann mit überirdischen Kräften; man konnte bis an den Rand gehen, wo der Asphalt eine gezackte Linie bildete, ungefährlich. Selbst wenn noch ein Stück abbrach, das Stück, auf dem er stand; Koslowski würde nur einen Meter tief ins Wasser fallen, das dort am Rand nicht reißend genug war, ihn ums Leben zu bringen. Aber er wagte nur einen einzigen Schritt.
    Woher hatte Semmler gewusst, dass es ungefährlich war? Er hatte es natürlich nicht gewusst. Er kannte Semmler fast vierzig Jahre, hatte seine Stimme im Ohr. »Du denkst zu viel«, hatte er oft zu Koslowski gesagt, »das bringt nichts.« Es war eine nette Form zu sagen: »Du bist ein Feigling!« Koslowski war feige, darüber machte er sich keine Illusionen. Weil er eben die Dinge zu Ende dachte und sich vorstellte, wie sie sein würden. Diese Dinge am Ende. Wer das tat, kam zum selben Ergebnis wie Koslowski und ließ die riskanten Sachen sein. Selbstschutz. Aber man nannte es Feigheit, er selber nannte es so. Sie hatten nie darüber gesprochen, das Wort war nie gefallen. Eigentlich hätte Koslowski in den vergangenen vier Jahrzehnten den Lohn seiner Vorsicht einfahren und der Draufgänger Semmler hätte scheitern müssen.
    So war es aber nicht gelaufen. Nicht dass Koslowski gescheitert wäre. Scheitern konnte man es nicht nennen. Matura, Chemiestudium. Und dann eben keine riskante Forschungskarriere bei einem deutschen Konzern, sondern eine viel schlechter bezahlte, aber weit sicherere Stelle in einemheimischen Pharmaunternehmen – also schön, was heißt schon »Pharma« ... sie hatten sich auf Salben und Tinkturen spezialisiert, auf Basis von Stein- und Latschenkieferöl. Die Firma gab es schon hundert Jahre, vom Bioboom der letzten
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