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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht
Autoren: Kelley Armstrong
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Tori selbst wirkte überrascht.
    »Du bist eine Hexe«, sagte ich.
    »Bin ich?« Sie kam näher, die Augen so wild wie ihr Haar. »Ist ja nett, dass es mir mal einer sagt. Meine Mutter hat immer drauf bestanden, dass ich mir das alles nur einbilde. Sie hat mich nach Lyle House gebracht, bipolare Störung diagnostizieren lassen, mich mit Medikamenten vollgepumpt. Und ich hab das Zeug geschluckt, weil ich sie nicht enttäuschen wollte.«
    Sie schlug mit beiden Händen nach unten, zwei Lichtblitze brachen aus ihren Fingerspitzen hervor und jagten auf mich zu. Toris Augen weiteten sich vor Schreck. Ihre Lippen öffneten sich zu einem lautlosen
Nein!
    Ich versuchte, auf den Knien aus dem Weg zu rutschen, war aber nicht schnell genug. Als die Blitze ratternd auf mich zukamen, erschien eine Gestalt aus dem Nichts – ein Mädchen in einem Nachthemd. Liz. Sie gab der Kommode einen Stoß, die Kommode löste sich von der Wand und flog nach vorn, in die Bahn der Blitze. Holz splitterte, Spiegelglas brach, Scherben gingen auf mich nieder, während ich mit gesenktem Kopf auf dem Teppich kauerte.
    Als ich den Kopf wieder hob, war alles still, und Liz war verschwunden. Die Kommode lag mit einem rauchenden Loch im Holz auf der Seite, und ich konnte nichts anderes denken als:
Das hätte ich sein können.
    Tori saß zusammengekauert auf dem Boden, die Knie an die Brust gezogen, das Gesicht zwischen ihnen verborgen. Sie wiegte sich vor und zurück. »Ich hab’s nicht so gemeint, ich hab das nicht gewollt. Ich werde bloß so wütend, so
wütend.
Und es passiert einfach.«
    Wie Liz, die Dinge in Bewegung setzte, wenn sie wütend wurde. Wie Rae, die bei einem Streit ihre Mutter verbrannt hatte. Wie Derek, der einen Jungen zur Seite geschleudert und ihm dabei das Rückgrat gebrochen hatte.
    Was würde passieren, wenn
ich
wirklich wütend wurde?
    Unkontrollierbare Kräfte. Das war nicht normal bei Paranormalen. Es konnte nicht normal sein.
    Ich machte einen vorsichtigen Schritt auf Tori zu. »Tori, ich …«
    Die Tür flog auf, und Toris Mutter kam hereingestürzt. Sie blieb abrupt stehen, als sie die Kommodentrümmer sah.
    »Victoria Enright!« Der Name kam als Fauchen heraus, das jedem Werwolf Ehre gemacht hätte. »Was hast du getan?«
    »S-sie war’s nicht«, sagte ich. »Ich war’s. Wir haben gestritten, und ich …« Ich starrte auf das Loch in der Kommode und konnte den Satz nicht beenden.
    »Ich weiß sehr gut, wer für das hier verantwortlich ist, Miss Chloe.« Jetzt galt das Fauchen mir. »Obwohl ich nicht bezweifle, dass du deine Rolle dabei gespielt hast. Ganz die kleine Anstifterin, stimmt’s?«
    »Diane, jetzt reicht es«, schnappte Dr. Davidoff von der Tür her. »Hilf deiner Tochter, das Durcheinander hier aufzuräumen. Chloe, komm mit.«
     
    Anstifterin? Ich? Vor zwei Wochen hätte ich bei der Vorstellung noch gelacht. Aber inzwischen … Tori behauptete, alles hätte mit mir angefangen, damit, dass die Jungs das hilflose kleine Wesen hatten beschützen wollen. Die Vorstellung war mir zuwider. Aber ganz unrecht hatte sie nicht.
    Derek hatte gewollt, dass Simon aus Lyle House floh und sich auf die Suche nach ihrem Dad machte. Aber Simon hatte Derek nicht zurücklassen wollen, und der hatte sich geweigert zu gehen, weil er Angst hatte, er würde wieder jemanden verletzen. Als Derek dahinterkam, dass ich eine Nekromantin war, hatte er eine Möglichkeit gefunden, Simons Bedenken zu überwinden. Die sprichwörtliche Jungfer in Not frei Haus.
    Ich war das arme Mädchen gewesen, das keine Ahnung hatte, was es bedeutete, eine Nekromantin zu sein, immer wieder Fehler gemacht hatte, immer stärker gefährdet gewesen war, in eine psychiatrische Klinik verlegt zu werden.
Siehst du das, Simon? Sie ist in Gefahr. Sie braucht deine Hilfe. Nimm sie mit, sucht Dad, er wird alles in Ordnung bringen.
    Ich war fuchsteufelswild gewesen, und ich hatte Derek zur Rede gestellt, aber ich hatte mich nicht geweigert, bei dem Plan mitzumachen. Wir brauchten Simons Dad – wir alle brauchten ihn. Sogar Derek, der sich uns am Ende, als wir entdeckt worden waren, doch noch angeschlossen hatte. Er hatte keine Wahl mehr gehabt.
    Wenn ich schon vorher gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich dann aufgehört, in Lyle House nach Antworten zu suchen? Hätte ich die Diagnose akzeptiert, meine Pillen geschluckt, den Mund gehalten und gewartet, bis man mich entließ?
    Nein. Die hässliche Wahrheit war besser als die angenehme Lüge. Es musste
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