Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
stand im Begriff, ein zweites Mal zu heiraten, und zwar einen Mann, der Arnold Ramsey bemerkenswert ähnlich war.«
»Thornton Jorst.«
»Es muss an einem fehlerhaften Gen gelegen haben, dass sie immer wieder auf solche Leute hereinfiel. Ich sah ein, dass mein ›Star‹ doch nicht perfekt war. Aber wenn ich sie nach all diesen Jahren nicht haben konnte, dann sollte auch kein anderer sie haben.«
»Also haben Sie Regina ebenfalls umgebracht.«
»Drücken wir das mal so aus: Ich habe sie mit ihrem erbärmlichen Gatten wiedervereint.«
»Und nun kommen wir zu John Bruno.«
»Sehen Sie, Agent King, jedes große Theaterstück hat mindestens drei Akte. Der erste Akt war der Nationalgardist, der zweite Ritter.«
»Und wir hier sind die Schlussszene, die Szene, bevor der Vorhang fällt – John Bruno und ich. Aber wozu? Regina ist tot. Was versprechen Sie sich denn von alldem noch?«
»Agent King, Ihnen fehlt einfach die visionäre Kraft, um zu erkennen, was ich hier geschaffen habe.«
»Tut mir Leid, Sid, ich gehöre eher zu den Leuten, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Und da ich dem Secret Service schon lange nicht mehr angehöre, können Sie auch die Anrede ›Agent‹ weglassen.«
»Nein, nein, heute sind Sie wieder Secret-Service-Agent«, widersprach Morse mit fester Stimme.
»Richtig. Und Sie sind ein Psychopath. Und wenn das alles hier vorbei ist, dann sorge ich persönlich für eine Familienzusammenführung. Sie landen bei Ihrem Bruder in der Klapse und können ihm dann nach Herzenslust Tennisbälle zuwerfen.«
Morse richtete seine Pistole auf Kings Kopf. »Ich sage Ihnen jetzt ganz genau, was Sie tun werden. Sobald der Uhrzeiger auf zehn Uhr dreißig rückt, nehmen Sie Ihre Position hinter dem Absperrseil ein. Für alles andere wird dann gesorgt. Sie spielen eine der Hauptrollen in diesem Stück – eine Rolle, die Ihnen bestens vertraut sein dürfte. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrem Auftritt – oder besser gesagt: Unglück…«
»Sie haben also ein exaktes Remake der Ereignisse von 1996 vor?«
»Nein, nicht ganz exakt. Sie sollen sich schließlich dabei nicht langweilen.«
»He, vielleicht hab ich ja auch noch die eine oder andere Überraschung für Sie im Ärmel.«
Morse lachte. »Sie spielen noch nicht in meiner Liga, Agent King. Und denken Sie dran, es handelt sich nicht um eine Kostümprobe. Es ist eine echte Vorstellung, verpassen Sie also Ihre Stichworte nicht. Und damit Sie Bescheid wissen: Dieses Stück läuft nur an diesem einen Abend.«
Morse verschwand in den Schatten, und King holte tief Luft. Morse war genauso Furcht erregend und brillant wie früher. King war drauf und dran, die Nerven zu verlieren. Ich gegen wer weiß wie viele, heißt dieses Spiel, dachte er. Er hatte eine Pistole, die jedoch mit Sicherheit nur Platzpatronen enthielt. Er warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. Noch zehn Minuten bis zum Beginn. Auf seiner Armbanduhr war es kurz vor 12.30 Uhr, und er hatte keine Ahnung, ob es kurz nach Mittag oder kurz nach Mitternacht war. Morse hatte seine Wanduhr natürlich nach Lust und Laune stellen können.
King sah sich um. Gab es in diesem Saal denn nichts, was dazu beitragen konnte, seine minimalen Überlebenschancen zu erhöhen? Nein, wohin er auch schaute, alles gehörte zur Reinszenierung eines entsetzlichen Ereignisses, an das er niemals wieder hatte denken wollen, geschweige denn, es noch einmal erleben.
Die Frage traf ihn wie ein Schlag: Wer sollte die Rolle von Arnold Ramsey übernehmen? Und blitzartig fiel ihm auch die Antwort ein: Wie der Vater, so die Tochter! Morse, dieser Schweinehund – er wollte doch tatsächlich genau das Gleiche noch einmal tun.
Michelle huschte am Waldrand von Baum zu Baum und ließ das Hotel und seine nähere Umgebung nicht aus dem Auge. So bekam sie mit, wie Jefferson Parks in einen Transporter stieg und mit einem Kavalierstart davonraste. Umso besser, dachte sie, ein Gegner weniger, um den ich mir Sorgen machen muss. Die Luft schien jetzt einigermaßen rein zu sein. Sie bückte sich und überwand die letzten Meter bis zum Zaun im Krebsgang. Schon wollte sie ihn überklettern, als ein leises Summen sie davon abhielt, und gleich darauf sah sie auch das Kabel, das zum Zaun führte. Sie trat einen Schritt zurück, hob ein Ästchen auf und warf es gegen die Maschen. Kaum traf es ins Ziel, da wurde es auch schon versengt. Na toll, dachte Michelle, der Zaun steht unter Strom! Der Weg durch das Loch
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