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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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war.
    Obermüllers Schläge hallten dumpf durch die morgendliche Stille. Als sie wieder bei ihm eintraf, trieb er das Metall mit zwei letzten kraftvollen Schlägen bis in die gewünschte Bohrtiefe. Er warf den weißen Plastikhammer zur Seite, bückte sich zu dem noch aus dem Waldboden herausragenden Schaft und steckte einen runden Querstab durch eine schmale Öffnung im Schaftkopf, um den Stock wieder herauszudrehen. Der Bohrstock war etwa zur Hälfte aus dem Boden heraus, als aus der Ferne ein Rasseln und Dröhnen ertönte.
    Die Erntemaschine war aufgewacht.

2
    D ie Probe, die Obermüller aus dem vierundzwanzigsten Loch gezogen und daneben abgelegt hatte, sah fast genauso aus wie die der drei vorhergehenden Einschlagstellen. Anja nahm ein neues Datenblatt, trug die Einschlagsnummer ein, maß die Mächtigkeit der aufeinanderfolgenden Bodenhorizonte und füllte die Spalten aus.
    Die Humusschicht im Oberboden betrug elf Zentimeter. Im A-Horizont dominierte feinsandiger Lehm, im B-Horizont glimmerreicher, schluffiger Lehm, der mit rötlichem und ockerbraunem Lehm wechselgelagert war. Sogar im C-Horizont bei hundertsechzehn Zentimetern war der Boden noch locker, wies kein Gestein und nur punktuell Verdichtungen auf und enthielt gut sichtbare Feindurchwurzelung. Anja trug alle Einzelheiten ein und schlug dann mehrmals leicht gegen die Unterseite des Bohrstocks. Ein dünner Feuchtigkeitsfilm trat hervor. Sie notierte »gut« und »grundfeucht« unter der Rubrik Wasserhaushalt und trug als Standorteinheit den Code 204+ ein. Dann hörte sie jenseits des Dickichts vor ihr wieder Obermüllers Hammerschläge.
    Doch plötzlich war da noch etwas. Der Buchenbestand ging hier in Nadelholz über. Als sie das letzte Mal darauf geachtet hatte, war dort, wo die noch Blätter tragenden Buchen es zwischen ihren Kronen zuließen, kurzzeitig Sonnenlicht zu sehen gewesen.
    Inzwischen hatte die Sonne die Feuchtigkeit wieder heruntergedrückt und einen schweren, kühlen Dunst über den Wald gelegt. Anja hielt inne und lauschte. Die Erntemaschine lief nicht mehr. Rührte daher ihr Gefühl, dass etwas anders war als zuvor?
    Sie schaute sich um. So einen Wald sah man nicht oft. Überall lag vermoderndes Totholz herum. Wild wuchernde Schlehen und Brombeersträucher machten ein Durchkommen manchmal fast unmöglich. In den letzten Stunden war sie schon mehrmals ganz schön ins Schwitzen gekommen bei dem Versuch, das auf dem Schreibtisch erstellte Raster ihres Probenziehungsplans wenigstens halbwegs einzuhalten. Aber trotz dieser Schwierigkeiten genoss sie die unberührte Umgebung, hielt manchmal inne, um ihren Blick in die verwunschene Tiefe zwischen den dicht stehenden Bäumen wandern zu lassen, weiter und weiter hinein in eine Welt, in der offenbar seit Jahren keine Menschenhand etwas verändert hatte. Doch wenn hier alles unberührt und verlassen war, warum hatte sie dann mit einem Mal so ein merkwürdiges Gefühl?
    Sie nahm ihr Klemmbrett unter den Arm, umklammerte instinktiv den Bohrstock fester und ging ein paar Schritte in Obermüllers Richtung. Er konnte nicht weit entfernt sein. Durch die dichte Wand aus Nadelwald vor ihr war er ihrem Blick zwar vollständig entzogen. Auch hörte sie keine Hammerschläge. Aber sollte sie rufen? Unsinn. Obermüller würde sich über sie lustig machen. In zwei Minuten hätte sie zu ihm aufgeschlossen. Plötzlich blieb sie stehen. Zwischen den Fichten hatte sich etwas bewegt. Sie starrte auf die Stelle. Und dann entdeckte sie den Mann. Er stand gut geschützt in einer Gruppe kleinwüchsiger Fichten und blickte durch ein Fernglas direkt zu ihr hin. Jetzt schien er bemerkt zu haben, dass sie ihn gesehen hatte, denn er ließ das Glas sinken, stand reglos da und starrte sie an. Anja hob die rechte Hand. Der Mann reagierte nicht. Ein wenig verwundert, aber noch immer arglos setzte sie sich in seine Richtung in Bewegung. Sie hatte ein freundliches »Grüß Gott« auf den Lippen, als der Unbekannte sich abrupt umdrehte und zwischen den Zweigen verschwand. Das Letzte, was sie von ihm sah, waren sein breiter Rücken und der Lauf eines Gewehrs, der über seine Schulter hinausragte.
    Sie erstarrte in der Bewegung. Sie hatte genug über merkwürdige Waldbegegnungen gehört, um zu wissen, dass es nun das Beste war, so schnell wie möglich zu Obermüller aufzuschließen. Ihr war unbehaglich zumute. Gleichzeitig hörte sie eine spöttische Stimme in sich. Was dachte sie denn gleich, nur weil ihr jemand mit dem Fernglas bei
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