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Schief gewickelt (German Edition)

Schief gewickelt (German Edition)

Titel: Schief gewickelt (German Edition)
Autoren: Matthias Sachau
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säße, wer weiß, vielleicht würde ich jetzt die Spannung aus all meinen Muskeln nehmen und einfach mal sehen, was passiert.
    Kurz bevor alles zu spät ist, geschieht doch ein Wunder. Die Menschenmauer öffnet sich einen Spalt, und ich stolpere in eine schmale Gasse. Gleich mehrere Zwei-Meter-Hünen in schwarzen Anzügen bahnen vor uns den Weg. Hinter uns schlagen die Wellen wieder zusammen, als wären wir Moses. Wo geht es hin? Je weiter wir vorankommen, um so mehr leuchten die Gesichter der Menschen um uns herum. Ist das Glück oder Wahnsinn? Was wollt ihr alle hier?
    Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Wir stehen vor einer Art Podest. Ich höre Frauenstimmen von oben. Eine der Stimmen nähert sich meinem Ohr.
    »Dürfen wir ihn kurz auf den Arm nehmen?«
    Warum nicht? Einer Frau schlägt man diese Bitte nur ab, wenn sie offensichtlich betrunken ist. Daniel quietscht, und meine Schulterblätter seufzen vor Erleichterung. Um uns herum setzt ein Blitzlichtgewitter ein, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich schaue nach oben. Die Perspektive ist ungewohnt. Man sollte einer Frau nicht unter den Rock schauen. Aber wenn es Beine wie diese sind, kann man beim besten Willen nirgendwo anders hinsehen. Die Riesen mit den schwarzen Anzügen schirmen mich zwar so gut es geht nach hinten ab, aber ich werde trotzdem nach wenigen Sekunden aus meiner Pole-Position gestoßen und taumle einen Meter weiter nach rechts. Mein Blick wandert an den Beinen hoch über das kurze enge Kleid und den glitzernden Schmuck. Mitten in diesem himmlischen Kunstwerk aus Alabasterhaut, teurem Stoff und Brillanten thront Daniel und nimmt Kontakt mit der Dame auf.
    »Guck mal, blitzt doll!«
    Ich kann das Gesicht der Frau mit den wunderbaren Beinen nicht sehen. Sie hält ihn so auf dem Arm, dass er es vor mir verdeckt. Hallo! Ich möchte auch gerne von Ihnen auf dem Arm gehalten werden. Wann komm ich dran? Als hätte sie meinen Wunsch gehört, dreht sie sich langsam nach rechts. Eine weitere Blitzwelle fegt über meinen Kopf, und Daniel quietscht. Jetzt kann ich sie sehen. Die Haare, die Nase, die Augen, die Lippen.
    Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.
    Eine der Damen hinter ihr flüstert ihr etwas ins Ohr und zeigt auf mich. Sie sieht mich an und lächelt. Daniel findet das nicht in Ordnung und beginnt, um ihre Aufmerksamkeit zu kämpfen.
    »Ich hab hier einen Popel.«
    Neeeeiiiiin! Und ich habe auch noch meine schlimmen Shorts an. Mir ist schlecht. Baumer, Becker, Simone, Tante Hilda, das Bobby-Car, die irre Indianerin, der Laptop, die Seniorin mit der Windel, der Grillwalker, alle fangen an, um meinen Kopf herumzukreisen. Und von ferne höre ich Frau Wendensteins angenehme Telefonstimme. Ich rufe irgendwas, und dabei wird mir schwarz vor den Augen.
    *
    Es gibt Sätze, die darf heute kein Drehbuchautor mehr verwenden, weil sie schon so abgegriffen sind. Wenn zum Beispiel der Hauptdarsteller in Ohnmacht fällt und dann irgendwo von besorgten Ärzten und Angehörigen umgeben wieder aufwacht, darf er auf keinen Fall »Wo bin ich?« sagen. Das ist einfach viel zu Old School.
    Eine Zeitlang haben sich die Autoren mit dem Satz »Margret, ich hatte einen fürchterlichen Traum« beholfen. Damit hatten sie erstens das »Wo bin ich?« elegant umkurvt, und zweitens konnte der in Ohnmacht Gefallene anschließend seinen fürchterlichen Traum schildern, um sich danach von Margret aufklären zu lassen, dass er nicht geträumt hat, sondern dass alles wirklich so passiert ist, was dann meist einen guten Lacher gab. Aber auch das geht heute nicht mehr. Wer in unseren Zeiten als Drehbuchautor einen Ohnmächtigen wieder aufwachen lassen will, steht vor einer echten kreativen Herausforderung.
    Aber das wirkliche Leben hat nichts mit Filmdrehbüchern zu tun. Ich wache auf und gucke direkt auf eine dieser grauen Plastiktriangeln, die immer über Krankenhausbetten baumeln, damit schwache Patienten sie greifen und sich an ihr aufrichten können. Pfiffig, wie ich bin, könnte ich natürlich schlussfolgern, dass ich im Krankenhaus bin, aber weil mir reichlich nebulös zumute ist und weil etliche anteilnehmende Gesichter in meinem peripheren Blickfeld herumschweben, die nur darauf warten, etwas von mir gefragt zu werden, sage ich einfach mal: »Wo bin ich?«
    Simones vertrautes Antlitz löst sich aus dem Gesichterkreis und rückt ins Zentrum. Außerdem fühle ich, wie sie meine Wange streichelt. Sie spricht langsam und sanft. Es klingt, als habe sie ihre Sätze gemeinsam
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