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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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irgendwie zu jung aus.
    »Haben Sie den Inhalt des Glases aufbewahrt?«, fragte sie ihn.
    »Äh … nein, Ma’am. Ich hab aber ausgiebig dran gerochen. Sie hat ganz eindeutig Cola-Rum getrunken.«
    »Um neun Uhr morgens?« Über den Tisch hinweg warf Maura ihrem Assistenten Yoshima einen Blick zu. Er war schweigsam wie immer, doch sie sah, wie eine dunkle Augenbraue dezent nach oben rutschte. Einen beredteren Kommentar würde sie von Yoshima kaum bekommen.
    »Allzu viel hat sie davon nicht mehr trinken können«, sagte Officer Buchanan. »Das Glas war noch ziemlich voll.«
    »Okay«, sagte Maura. »Sehen wir uns mal ihren Rücken an.«
    Mit vereinten Kräften drehten sie und Yoshima die Leiche auf die Seite.
    »Da ist eine Tätowierung auf der Hüfte«, bemerkte Maura. »Ein kleiner blauer Schmetterling.«
    »Boah!«, meinte Buchanan. »Eine Frau in ihrem Alter?«
    Maura blickte zu ihm auf. »Sie meinen wohl, mit fünfzig ist man schon steinalt, wie?«
    »Ich meine – na ja, meine
Mutter
ist so alt.«
    Vorsicht, Bürschchen. Ich bin nur zehn Jahre jünger.
    Sie nahm das Skalpell zur Hand und begann zu schneiden. Es war ihre fünfte Obduktion für heute, und sie arbeitete zügig. Dr. Costas hatte Urlaub, und nach einer Massenkarambolage in der vergangenen Nacht hatte sie den Kühlraum am Morgen voller frischer Leichensäcke vorgefunden. Noch während sie damit beschäftigt gewesen war, den Rückstand aufzuholen, waren zwei weitere Leichen in die Kühlkammer eingeliefert worden. Die beiden würden bis morgen warten müssen. Das Verwaltungspersonal des Rechtsmedizinischen Instituts hatte schon Feierabend gemacht, und Yoshima sah immer wieder auf die Uhr – offensichtlich konnte er es kaum erwarten, sich endlich auf den Heimweg zu machen.
    Sie durchschnitt die Hautschichten, weidete Brust- und Bauchhöhle aus. Hob die triefenden Organe heraus und legte sie auf die Schneidunterlage, um sie zu sezieren. Nach und nach gab Gloria Leder ihre Geheimnisse preis: eine Fettleber, die verriet, dass sie sich wohl ein paar Cuba Libres zu viel gegönnt hatte; eine von knotigen Fibromen durchzogene Gebärmutter.
    Und schließlich – als sie den Schädel eröffneten – das, was ihren Tod verursacht hatte. Maura sah es, als sie das Gehirn in ihre behandschuhten Hände nahm. »Subarachnoidalblutung«, sagte sie und blickte zu Buchanan auf. Er war merklich blasser geworden, seit er den Raum betreten hatte. »Diese Frau hatte wahrscheinlich ein Beerenaneurysma – eine Schwachstelle in einer der Arterien an der Basis des Gehirns. Bluthochdruck dürfte das Problem verschlimmert haben.«
    Buchanan schluckte, die Augen starr auf den schlaffen Hautlappen gerichtet, der einmal Gloria Leders Kopfhaut gewesen und nun nach vorn über ihr Gesicht gezogen war. Das war normalerweise der Punkt, an dem die Beobachter das kalte Grausen überkam, der Moment, da viele von ihnen zusammenzuckten oder sich entsetzt abwandten – wenn das Gesicht der Leiche wie eine ausgeleierte Gummimaske in sich zusammenfiel.
    »Sie meinen also … dass es ein natürlicher Tod war?«, fragte er leise.
    »Genau. Hier gibt es nichts mehr, was Sie unbedingt sehen müssten.«
    Der junge Mann streifte schon seinen Kittel ab, während er vom Seziertisch zurückwich. »Ich glaube, ich brauche ein bisschen frische Luft …«
    Ich auch, dachte Maura. Es ist ein Sommerabend, meine Gartenpflanzen wollen gegossen werden, und ich war den ganzen Tag noch nicht vor der Tür.
    Doch eine Stunde später war sie immer noch im Institut. Sie saß an ihrem Schreibtisch, sah Laborausdrucke durch und diktierte Berichte. Obwohl sie sich ihrer OP-Kleidung entledigt und sich umgezogen hatte, schien der Geruch des Sektionssaals noch an ihr zu haften; ein Geruch, der sich auch mit noch so viel Seife und Wasser nicht tilgen ließ – denn es war die Erinnerung daran, die stets zurückblieb. Sie griff nach dem Diktiergerät und begann, ihren Bericht über Gloria Leder aufzuzeichnen.
    »Fünfzigjährige Weiße, im Liegestuhl am Swimmingpool ihres Apartmentblocks leblos aufgefunden. Es handelt sich um eine gut entwickelte, wohlgenährte Frau ohne sichtbare Verletzungen. Bei der äußeren Besichtigung wurde eine alte Operationsnarbe am Abdomen festgestellt, wahrscheinlich von einer Appendektomie herrührend. Eine kleine Tätowierung in Form eines blauen Schmetterlings findet sich auf ihrer …« Maura hielt inne und versuchte, sich die Tätowierung in Erinnerung zu rufen. War sie an der linken oder an
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