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Schauen sie sich mal diese Sauerei an

Schauen sie sich mal diese Sauerei an

Titel: Schauen sie sich mal diese Sauerei an
Autoren: Jörg Nießen
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allerlei tierische Lebensformen geworden ist und nun plötzlich und völlig ohne eigenes Zutun das Mitleid eines wohlsituierten Städters erregt. Der hilflose Städter ruft den Rettungsdienst. Mir stellt sich in diesen Situationen immer die Frage, wer hier eigentlich die hilflosere Person ist. Der Obdachlose, der nur in Ruhe sein Nickerchen auf der öffentlichen Parkbank machen möchte, der Städter, der mit der Situation, einem leibhaftigen Obdachlosen zu begegnen, völlig überfordert ist, oder ich, der ich keine Wahl habe und nach erfolgter Alarmierung erst mal zu dieser absolut unnötigen Einsatzstelle eilen muss. »Hilflose Person« kann aber auch die hysterische alleinerziehende Mutter sein, die soeben die schrecklich diabolische Nachricht erhalten hat, dass der Babysitter heute nicht erscheint. Oder die liebestolle Hypochonderin, die alle zwei Tage wegen akuten Asthmas den Rettungsdienst ruft, nicht, weil sie schlecht Luft bekommt, sondern, um sich die Sanitäter vom Tage mal genauer anzuschauen. Während ich noch meinen Gedanken nachhing, erreichte ich den Rettungswagen. Als ich das Tor der Fahrzeughalle öffnete, sagte Hein folgenden denkwürdigen Satz: »Ich glaube, die Adresse ist ein privates Bordell!« Sofort änderte sich meine Sichtweise auf diesen Einsatz um 180 Grad. Von einem wahrscheinlich langweiligen Routineeinsatz hin zu einem aufregenden Abenteuer mit sexueller Thematik. Wichtige Fragen schossen mir durch den Kopf. Nein, nichts Medizinisches, was Sie sich vielleicht denken können - vielmehr die Frage, ob es außer privaten auch öffentlich-rechtliche Bordelle gab. Und was war die korrekte Anrede für eine Dame, die sich diesem Gewerbe verschrieben hatte? Alles Fragen, auf die man in der Schule und in der Ausbildung keine befriedigenden Antworten bekommt. Aber jetzt war auch nicht der Zeitpunkt, um diese Fragen zu klären, schließlich fuhr Hein mit leicht überhöhter Geschwindigkeit inklusive Blaulicht und Martinshorn durch den Stadtverkehr, und es waren nur noch wenige Minuten, bis wir das heilige Schatzamt des Lasters erreichen würden. Aber ich hatte noch mehr Fragen: Wer war eigentlich der Patient? Ein Freier? Lieber nicht. Oder eine der Liebesdamen? Hoffentlich! Aber: Man weiß es nie. Die Spannung stieg, und immer noch raste Hein durch die Straßen. Was hatte Hein noch gesagt? »Ich glaube, die Adresse ist ein privates Bordell!« Hoffentlich hatte Hein sich nicht geirrt, glauben ist schließlich nicht wissen. Meine Enttäuschung wäre grenzenlos. Wie konnte Hein auch derart leichtfertig eine solche Erwartungshaltung in mir aufbauen?! Bremsen. Stillstand. Wir waren da. Die nächsten zwanzig Sekunden geschahen wie immer völlig automatisiert: aussteigen, Seitentür öffnen, Notfallkoffer, Beatmungsgerät, Defibrillator und Absaugung entnehmen und - wichtig - einen selbstbewussten Gesichtsausdruck aufsetzen. Hein und ich schritten gemeinsam zur Haustür, und mindestens ich wurde skeptisch. Keines der Klingelschilder enthielt einen eindeutigen Anhaltspunkt auf unseren Einsatzort. Statt Puff, Freudenhaus oder Bordell fanden sich alltägliche Namen wie Breuer, Hansen, Schmitz oder Classen neben den Klingelknöpfen wieder. Wurden wir doch nicht in ein Bordell gerufen? In der Alarmierung hieß es »Ohne Namen«. Das kommt häufig vor, wenn den Menschen die Einsatzsituation peinlich ist. Nun ja, das Finden der Einsatzstelle macht es nicht gerade einfacher. Noch während Hein nach sinnvollen Hinweisen suchte und ich darüber nachdachte, ob wir gleich ein Bordell betreten würden oder nicht, surrte plötzlich der Türöffner. Unsere Ankunft wurde also zweifelsohne beobachtet. Hein drückte kraftvoll die Haustür auf und rief lauthals: »Hallo, Rettungsdienst!« Im gleichen Augenblick rief gedämpft durch mehrere Stockwerke eine weibliche Stimme zurück: »Ja, ja, hier oben!« Wir wurden also erwartet. Wenn es ein Grundgesetz in meinem Beruf gibt, dann dass die Einsatzstelle immer im obersten Stockwerk liegt. Der Weg dorthin führte uns in diesem Fall über eine Holztreppe, die so steil war, dass man Lust hatte, Sicherungsmaßnahmen wie bei einem Klettersteig zu ergreifen. Vorbei an kleinen Beistelltischen voller fürchterlich geschmackloser Blumenbuketts auf jedem Treppenabsatz und geblendet durch eine bunte Tapete aus den Siebzigerjahren mit psychedelischem Muster erreichten wir das vierte Obergeschoss. Noch auf der Treppe erkannte ich die Silhouette einer leicht bekleideten Dame. Halleluja -
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