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Schattentraeumer - Roman

Schattentraeumer - Roman

Titel: Schattentraeumer - Roman
Autoren: Andrea Busfield
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nachts ihre Schreie höre. Glaubt mir, ich bemühe mich immer, daran zu denken,
     dass keine Seite das Leid für sich gepachtet hat, aber ich schwöre bei Allah, es ist nicht leicht.
    Ihr müsst wissen, dass der Friedenseinsatz uns völlig überraschend
getroffen hat. Und auch wenn mir bewusst ist, dass Angst und Schrecken die Griechen dazu gebracht haben, sich gegen ihre
     Nachbarn zu wenden, kann ich es niemals vergeben. Genau darin liegt wohl das Problem. Im Augenblick erkenne ich keinen Weg
     zur Versöhnung. Euer Feind vom türkischen Festland war unser Retter. Unsere Soldaten kamen, um uns von den Schrecken der Vergangenheit
     und der Katastrophe einer künftigen griechischen Gewaltherrschaft zu erlösen. Heute fühlen sich die türkischen Zyprer zum
     ersten Mal seit beinahe zwei Jahrzehnten sicher in ihrem Land. Könnt ihr Euch das Ausmaß der Erleichterung, sogar bei all
     unserem heutigen Kummer und Leid, auch nur ein wenig vorstellen? Wir vergessen nicht, was wir alles ertragen mussten.
    Aber ich schweife vom Thema ab. Dieser Brief soll kein Dokument der Rechtfertigung sein, sondern ein Abschied von Menschen,
     die so sehr Teil von mir sind wie meine eigene Familie. Ich habe Euch alle gekannt, seit Ihr Kinder wart, und ich habe Euch
     alle geliebt. Ich bete dafür, dass Ihr glücklich sein werdet und immer in Sicherheit bleibt. Wenn Allah es will, werden wir
     uns vielleicht im nächsten Leben wiedersehen.
    Euer Euch liebender Nachbar und Freund,
    Mehmet Kadir
     
    Praxi faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag, den sie mit einem Kuss versiegelte. Es wäre einfacher
     gewesen, ihre Tochter anzurufen, aber sie zog den Aufwand, den das Schreiben bedeutete, und das bleibende Geschenk eines Briefes
     vor. Wenn Loukis jemals das Gleiche getan hätte, wäre es ihr womöglich nicht so schwer gefallen, ihn all die Jahre lebendig
     zu erhalten. Auch wenn sie sich alle Mühe gab und bruchstückhafte Bilder und Töne heraufbeschwören konnte, war die Liebe ihres
     Lebens doch flach geworden: eine zweidimensionale Andeutung des Mannes, der Loukis einst gewesen war. Aus diesem Grund hatte
     Praxi immer zu Stift und Papier gegriffen. Damit ihre Tochter niemals unter dem Verblassen der Erinnerung leiden müsste.
    Wir vergessen nicht.
    Als sie den Brief auf dem Fensterbrett ablegte, erhaschte Praxi einen unerwarteten Blick in den Spiegel. Sie war erschrocken
     und entsetzt. In ihrer Vorstellung besaß sie noch immer die Anmut ihrer Jugend. Sie hatte keine Ahnung, wer diese alte Frau
     war, die ihr dort entgegenstarrte. Ihr wunderschönes schwarzes Haar war grau geworden, ihre Augen wurden vom Gewicht der faltigen
     Lider niedergedrückt, und ihre Wangen hingen schlaff herab. Was würde Loukis bloß von ihr halten? Würde er dieses runzlige
     Wrack von einer Frau noch als sein Leben bezeichnen? Oder würde er seine Abende damit verbringen, sehnsüchtig an Maria und
     ihre prallen Brüste zu denken, die sich Alter und Schwerkraft widersetzten? Wie konnte sie sich nur so sehr und so schnell
     verändert haben, wo doch die Jahre so langsam vorübergekrochen waren, als säße sie in der Todeszelle? Wo war Gottes Gnade?
     Die Welt hatte sich gegen sie verschworen und ihr alles geraubt, selbst ihr Aussehen, und sie fand nicht, dass sie das verdient
     hatte.
    Sie unterdrückte die drohenden Tränen und blies den üblen Geruch der Selbstverhöhnung aus der Nase, drehte den Spiegel gegen
     die Wand und machte sich daran, die Wohnung zu putzen. Zumindest sollte alles in einem ordentlichen Zustand sein. Daran führte
     kein Weg vorbei. Als sie fertig war, trug sie die weißen Kieselsteine, die sie aufbewahrt hatte, zum Spülbecken und wusch
     sie ab. Ihre Tochter hatte sie damals Mondsteine genannt, und Praxi wollte sie am nächsten Tag auf Dhespinas Grab legen, als
     kleines Geschenk einer Familie, die es nie wirklich gegeben hatte.
    Zwei Wochen zuvor war Dhespina, kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag, im Schlaf gestorben. Ihrem Tod war keine Krankheit
     vorausgegangen, für sie war schlicht der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Sie hatte so viele Jahre damit verbracht, auf Loukis
     zu warten, und als sie endlich wusste, wo sie ihn finden konnte, hatte sie einfach die Augen geschlossen und war gegangen.
     Sie verstarb keine vierundzwanzig Stunden,nachdem ihr jüngster Sohn auf einem blütenweißen Laken vor ihr gelegen hatte, Glied für Glied, Rippe für Rippe, Gelenk für
     Gelenk, vom Schädel bis zu den
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