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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten
Autoren: Nora Melling
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bedeckt die Straßen unter den kahlen Bäumen wie Papier, das nach schaukelndem Flug zu Boden gesunken ist. Wir sind ganz allein. Das einzige Geräusch verursachen unsere Schritte auf den Gehwegplatten, während wir zur S-Bahn laufen.
    «Ich fasse es immer noch nicht, dass du schon wieder mit Elias in einer WG wohnst», sagt Thursen, leise, als wollte der die Menschen in den Häusern nicht wecken.
    «Du weißt, dass er eine neue Wohnung brauchte, nachdem seine alte abgebrannt ist. Und so muss ich jetzt nicht aus Berlin weg, bevor ich meinen Schulabschluss habe.» Ich hätte, so wie meine Mutter, raus aus Berlin zu Anja ziehen können. Dann wäre ich dort wieder Kind in einer Familie, mit Lotti und Lilly. Aber es fühlte sich irgendwie nicht mehr richtig an. Ich bin kein Kind mehr.
    «Es ist ja schön, dass du noch hier bist. Ich denke nur die ganze Zeit: Musste es denn ausgerechnet Elias sein? Hättest du nicht einen anderen Mitbewohner finden können?»
    «Bist du eifersüchtig? Musst du nicht. Ich glaube nämlich, dass er da so ein Mädchen an der Uni kennengelernt hat.» Er tut sehr geheimnisvoll und hat mir noch nicht mal ihren Namen verraten. Vielleicht hat sie ihn auch abblitzen lassen? Das wäre ein Grund, warum er nichts von ihr erzählt.
    Thursen trägt die Tasche mit den Blumen über der Schulter, in die ich vorhin schnell noch die Kerzen und die Gläser gesteckt habe. Wir gehen schweigend.
    Die Zeit ist gekommen für einen Abschied. Und es ist die Zeit für einen Neubeginn.
    Wir fahren in den Wald, steigen aus und setzen unseren Weg zu Fuß fort. Wir folgen dem Wanderweg, dann einem Wildpfad und dann nur noch unseren Erinnerungen. Thursen hält mich an der Hand. Den ganzen Weg durch den Wald lässt er meine Hand nicht los. Ich frage mich einen Herzschlag lang, ob das für immer ein Bild meines Lebens sein wird: Meine Hand in seiner, immer, egal, wohin wir gehen werden, egal, was auch geschieht.
    Dann erreichen wir die Senke, die einst das alte Wolfslager war. Und dort warten die Ersten schon auf uns. Das Licht einer Taschenlampe wischt über eine rot-blau karierte Picknickdecke. Norrock, seine breiten Schultern in derselben alten Lederjacke wie immer, sitzt dort, die Ellenbogen auf den Knien und sieht uns entgegen. Lässig hält er die Taschenlampe, in deren Licht Rieke Tupperdosen aus einer Tasche packt. Wir begrüßen uns stumm mit Kopfnicken, als wäre es zu früh für Worte. Wir waren Werwölfe, brauchten so lange für Sprache keine Worte.
    Thursen und ich setzen uns zu ihnen. Norrock mustert Thursens Gesicht. «Alles in Ordnung?», heißt das. Thursens Mundwinkel zeigt die Andeutung eines Lächelns. Nur Rieke ist wie immer nichts als ein Mensch. «Wie schön, dass wir uns alle noch mal sehen! Der Alltag fühlt sich immer noch so fremd an, nach alldem hier im Wald.» Strahlend öffnet sie eine der Dosen und hält sie mir hin. «Wir haben gestern extra noch Cookies gebacken! Willst du?»
    Handtellergroße goldene Cookies mit Schokoladenstückchen sind es.
    «Wir?» Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und sehe Riekes Begleiter an. «Du backst Kekse, Norrock?»
    «Muss ich doch», antwortet Norrock und winkt mit der Taschenlampe. «Sie nimmt immer viel zu wenig Zucker.»
    Ich stelle mir vor, wie sie gemeinsam in der Schüssel rühren, den Teig probieren. Die verletzte Buchhändlerin und der im letzten Moment zurückverwandelte Werwolfmann. «Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass ihr jetzt zusammenwohnt.»
    «Hat sich so ergeben.» Norrock zuckt mit den Schultern. «Irgendwo muss man doch wohnen. Und es ist leichter, was zu finden, wenn man nicht allein ist.»
    Und es ist leichter, in ein Leben als Mensch zurückzufinden, wenn man Rieke an der Seite hat, die sich noch daran erinnert, wie ein Menschenleben funktioniert. Rieke, der er so wichtig war, dass sie ihn ausgetrickst hat, um ihn nicht an die Welt der Toten zu verlieren. «Seid ihr jetzt eigentlich zusammen?»
    «Spinnst du?», fragt Rieke und drückt die Frischhaltedose zu. «Nach dem, was wir erlebt haben? Wie sollten wir denn da eine vernünftige Beziehung führen?»
    Wie von selbst geht mein Blick hinüber zu Thursen, der vor unserer Tasche kniet. Die halblangen Haare fallen ihm in die Stirn, sodass ich seine Augen nicht sehen kann. Vielleicht hat Rieke recht. Vielleicht ist es unmöglich, eine unbeschwerte Liebe zu leben, nach all dem, was uns passiert ist. Aber Thursen und ich sind verrückt genug, es trotzdem zu versuchen. Wir
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