Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
Chef wartete. An ein Hochkommen war deshalb aber trotzdem nicht zu denken, nicht bevor sich sein Magen erholt und sein Kopf beruhigt hatte.
    Wie überstehe ich bloß diesen Tag?
    »Wie spät haben wir es?«
    Chris’ Lächeln erstarb. Sie sah mit blauen Augen skeptisch auf ihn herab. Philip mochte ihre blauen Pupillen, aber diesen Blick, den mochte er nicht. »Wünschen der Herr die Zeitansage mit Sekunden oder ohne?«
    Er leckte sich über die Lippen und schmeckte das Erbrochene. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. »Ist mir egal. Einfach nur: wie spät?«
    »Klar, kein Thema. Du hast uns ja auch keinen Schrecken eingejagt, überhaupt nicht. Du bist einfach nur im Tresor umgekippt, hast rumgezappelt wie ein Spastiker – von deiner Gesichtsmassage wollen wir gar nicht reden.« Ihr Kopf sank auf die Brust, das Haar fiel ihr ins Gesicht und verhüllte die Tränen, die ihre Augen füllten. Sie flüsterte. »Überhaupt nicht, ist ja alles in bester Ordnung.«
    »Ist es auch«, entgegnete er. »Ich lebe doch noch.«
    Sie schaute ihn durch ihr Haar stumm an. Speichel tropfte auf sein Kinn. Sein Haar war zersaust, und seine Pupillen so groß und schwarz, dass man hätte glauben können, das Weiße in den Augen fehle. Er zitterte am ganzen Körper, als würde er von Weinkrämpfen geschüttelt. »Du bist so ein riesiges Arschloch!«
    »Danke, immer doch, gerne.«
    Philip zwang seinen Oberkörper, sich emporzurichten. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, beinahe in Zeitlupe, um seinen Körper nicht herauszufordern. Überraschenderweise verschonte dieser ihn mit Schmerz und Schwindel, und als er aufrecht saß, gelang ihm sogar ein Lächeln. Nur das Zittern ließ sich nicht unterdrücken.
    Mit einer fahrigen Bewegung strich Chris ihr Haar hinter die Ohren und wischte sich die Tränen von den Lidern. Sie zupfte an dem Schal, der sich wie eine Schlange um ihren Hals wand. »Weißt du, dass du von Glück reden kannst, dass du überhaupt zurückgekehrt bist und dich erinnern kannst?«
    Sein Blick flog herum. Gegenüber lag der Bundesrat, vor dem zwei uniformierte Beamte patrouillierten. Das sandsteinfarbene Gebäude war vom Tresor nur durch die Leipziger Straße getrennt, auf der bereits der Berufsverkehr rauschte. Die ersten Touristen formten die Spitze einer Besucherschlange, die bis zum Nachmittag stetig anwachsen würde. Sie rieben sich die Hände, als würde das die Dezemberkälte vertreiben. Alles war beim Alten, der Berliner Alltag, öde wie immer, die Welt noch in Ordnung. »Ach Chris, mach doch bitte nicht so ein Drama draus!«
    Sie schnappte nach Luft. »Nicht? Was denn dann? Eine Komödie? Soll ich lachen, Beifall klatschen und dann wieder tanzen gehen?«
    Er verdrehte die Augen. »Es ist doch alles wieder in Ordnung.« Um es ihr zu beweisen, schlug er sich mit dem Handballen zweimal gegen die Schläfe. Der Schmerz blieb aus. Das ermutigte ihn aufzustehen. Doch gerade, als er es bis in die Hocke geschafft hatte, verlangte sein erschöpfter Körper abermals Tribut. Schwindel jagte über ihn hinweg, ließ ihn wanken; er verlor das Gleichgewicht und er fiel zurück auf den Asphalt.
    Chris lachte auf, aber nicht vor Vergnügen. »Alles in Ordnung, das sehe ich.«
    »Ja und? Soll ich mich jetzt etwa bemitleiden? Dafür habe ich keine Zeit.«
    »Ach, wofür denn dann?«
    »Es ist Montagmorgen, ich muss zur Arbeit, verstehst du?«
    »Du bist es, der nichts kapiert!«
    »Was gibt’s denn da zu verstehen?«
    »Kannst du dir vorstellen, dass wir uns Sorgen gemacht haben? Dass ich Angst um dich hatte?«
    »Wieso?«
    »Du fragst mich ›Wieso‹? Im Ernst?«
    »Ernsthaft!«
    Sie forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen eines Scherzes. Doch sie fand nur die müden Augen, den verschmierten Mund, die zitternden Hände, die hängenden Schultern. Sie holte Luft. »Du bist so ein Arschloch!«
    »Du wiederholst dich.«
    »Entschuldige, der Herr, nerve ich dich etwa?«
    »Den Sarkasmus kannst du dir sparen.«
    »Du hast Recht. Er kostet mich zu viel Energie, die ich besser verwenden könnte.«
    »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
    »Welche Frage?«
    »Warum du Angst um mich hast. Warum die Aufregung? Ich meine, hey, es ist nichts passiert…«
    »Das weiß ich… inzwischen. Aber vor anderthalb Stunden war mir das noch nicht klar. Und da hatte ich Angst.« Sie wartete kurz, hoffte, dass er von selbst auf die Antwort kam. Doch er nickte nur, ein Zeichen dafür, dass er zuhörte, aber nicht verstand. Also
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher