Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Mann wusste es nicht. Es gab kein anschließend, jedenfalls hatte es das bis jetzt nicht gegeben. Er hatte vier Patronen auf den Fenstersims gestellt. Die goldbraunen matten Metallhülsen reflektierten die Sonnenstrahlen.
    Dann blickte er wieder durch das Zielfernrohr. Der Vogel saß noch immer dort. Er erkannte ihn wieder. Sie trugen den gleichen Namen. Er richtete das Zielfernrohr auf die Menschenmenge und betrachtete die Leute an der Absperrung. Bis sein Blick an etwas Bekanntem verharrte. Konnte das denn sein …? Er stellte scharf. Doch, es gab keinen Zweifel, das war Rakel. Was tat sie da auf dem Schlossplatz? Und da war auch Oleg. Es sah aus, als käme er aus dem Kinderumzug angelaufen. Rakel hob ihn mit kräftigen Armen über die Absperrung. Ja, sie war stark, hatte starke Hände. Wie ihre Mutter. Jetzt gingen sie gemeinsam zum Wachhäuschen. Rakel blickte auf die Uhr, es sah aus, als wartete sie auf jemanden. Oleg trug die Jacke, die er ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Die »Opajacke«, wie Rakel und der Kleine sie nannten. Sie schien tatsächlich bald schon wieder zu klein zu sein.
    Der Alte schmunzelte. Er würde ihm im Herbst eben eine neue kaufen.
    Die Schmerzen kamen dieses Mal ohne jede Vorwarnung und er rang hilflos nach Atem.
    Der Lichtschein der Explosionen sank am Himmel herab und ließ die gebeugten Schatten an der Wand des Schützengrabens auf ihn zukriechen.
    Es wurde dunkel, doch gerade, als er glaubte, in all dem Schwarz zu versinken, ließen ihn die Schmerzen wieder los. Das Gewehr war zu Boden geglitten und sein Schweiß klebte das Hemd an seinen Körper.
    Er richtete sich auf und legte den Lauf des Gewehres wieder auf den Fensterrahmen. Der Vogel war fortgeflogen. Er hatte freie Schussbahn.
    Das reine, junge Gesicht füllte wieder das Sichtfeld des Zielfernrohrs. Der Junge hatte studiert. Auch Oleg sollte studieren. Das war das Letzte, was er Rakel gesagt hatte. Das war das Letzte, was er sich selbst gesagt hatte, ehe er Brandhaug erschoss. Rakel war nicht da gewesen, als er an jenem Tag nach Hause in den Holmenkollvei gekommen war, um ein paar Bücher zu holen. Er hatte sich also selber die Tür aufgeschlossen und war ganz zufällig auf den Briefumschlag gestoßen, der auf dem Schreibtisch lag. Mit dem Briefkopf der russischen Botschaft. Er hatte ihn gelesen, wieder zurückgelegt und durch das Fenster in den Garten gestarrt, auf die Schneereste, die Relikte der letzten krampfhaften Attacke des Winters. Anschließend hatte er die Schubladen des Schreibtisches durchsucht. Und die anderen Briefe gefunden, die mit dem Briefkopf der norwegischen Botschaft, und auch die Mitteilungen ohne Briefkopf, die auf Servietten oder abgerissene Notizzettel geschmiert und von Bernt Brandhaug unterschrieben worden waren. Und er hatte an Christopher Brockhard gedacht.
    Kein Scheißrusse wird heute Abend unsere Späher erschießen.
    Der alte Mann entsicherte die Waffe. Er spürte eine seltsame Ruhe. Gerade eben war ihm wieder bewusst geworden, wie leicht es gewesen war, Christopher Brockhard die Kehle durchzuschneiden. Und dann Brandhaug zu erschießen. Opajacke, eine neue Opajacke. Er blies die Luft aus seinen Lungen und legte den Finger an den Abzug.
     
    Mit einer Universal-Keycard für alle Hotelzimmer stürzte Harry zum Aufzug und schob seinen Fuß zwischen die sich schließenden Türen. Sie öffneten sich wieder. Gesichter glotzten ihn an.
    »Polizei!«, schrie Harry. »Alle raus.«
    Es sah fast aus, als hätte eine Schulglocke zur großen Pause geläutet, doch ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Ziegenbart, blau gestreiftem Anzug, einer gewaltigen Schleife in den Nationalfarben auf der Brust und einer dünnen Schicht Schuppen auf den Schultern blieb stehen.
    »Guter Mann, wir sind norwegische Staatsbürger und unser Land ist nun wirklich kein Polizeistaat!«
    Harry ging um den Mann herum, trat in den Aufzug und drückte auf den Knopf mit der Zweiundzwanzig. Doch der Ziegenbart war noch nicht fertig.
    »Sagen Sie mir ein Argument, warum ich als Steuerzahler akzeptieren …«
    Harry zog Webers Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter. »Ich habe hier sechs Argumente, Steuerzahler. Raus!«
     
    Die Zeit vergeht im Flug und bald kommt auch schon der nächste Tag. Im Morgenlicht werden wir besser erkennen können, ob es ein Freund oder ein Feind ist.
    Feind, Feind. Früh oder nicht früh, ich kriege ihn so oder so. Opajacke.
    Halt’s Maul, es gibt kein Danach!
    Das Gesicht im Zielfernrohr sah ernst aus.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher