Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
verschreckt.
Er hätte am liebsten mit seinem Vater gesprochen. Und ihm alles erzählt. Morgennebel umgab das Bürogebäude im Helsinkier Stadtteil Herttoniemi. Über dem Haupteingang stand in schmucklosen Buchstaben: HELSINKI SECURITY GROUP.
Ein dunkelgrüner Aston Martin DB6 mit spanischem Kennzeichen rollte auf den Parkplatz der Sicherheitsfirma. Der teilweise restaurierte Sportwagen fand zwischen all den Nissans und Opels noch eine freie Parkbucht, in die er exakt mittig hineinstieß. Fünf Millimeter vor der Betonwand kam der verchromte Kühlergrill zum Stehen.
Tero stieg aus dem niedrigen Wagen. Er hätte den Termin verschieben können, aber er wollte keinerlei Abweichung von der Normalität. In den frühen Morgenstunden war ihm eines endgültig klar geworden: Roni hatte sich einer entsetzlichen Tat schuldig gemacht. Und die Hormonkur, die er auf den Vorschlag seines Vaters hin begonnen hatte, war dabei ausschlaggebend gewesen. Wenigstens zum Teil. Der Junge musste sich die Folgen seiner Tat bewusst machen; wenn er das Verbrechen nicht sühnte, 21
würde es ihn bis ins Grab verfolgen. Roni musste begreifen, dass auf ein Verbrechen die Strafe zu folgen hatte, mit der man vor sich selbst und der Gesellschaft büßte.
Andererseits bestand für Tero kein Zweifel daran, dass Roni die nächsten Jahre nicht im Gefängnis, sondern am Steuer eines Rennautos sitzen würde genauer gesagt am Lenkrad eines Formel-i-Boliden.
Blieb also nur eine außergewöhnliche Lösung, die aber die einzig richtige zu sein schien: Roni sollte erreichen, was auf der Rennstrecke zu erreichen war, und seine Strafe erst danach absitzen. Sollte er eben mit dreißig ins Gefängnis gehen.
Tero drehte und wendete die Idee im Kopf hin und her. Was würde Roni davon halten?
Nein, Ronis Meinung war in dieser Situation nicht entscheidend. Er durfte von dem Plan gar nichts wissen; man konnte und sollte nicht jahrelang auf ein Urteil warten, es musste überraschend kommen. Aber funktionierte so ein Plan tatsächlich? Oder war er bloß Selbstbetrug?
»Tero, wie geht's?«, fragte ein junger Wachmann in der Eingangshalle. »Hast du schon gehört, was mit Kimmos Tochter ...«
»Hab ich. Schrecklicher Fall. Hoffentlich schnappen sie den Täter wenigstens ...«
Tero ging schnell weiter zum Aufzug.
»Wie lange ist Roni noch im Land? War schön, ihn mal wieder zu sehen«, rief ihm der Wachmann hinterher.
»Ich weiß nicht, kann sein, dass er schon morgen zurückfliegt.« Oben klopfte Tero energisch an die Tür mit dem Schild HAARA -NEN, JARI GESCHÄFTSFÜHRER.
Haaranen wollte einige Kundenverträge durchgehen. Tero hatte Haaranen, als er ihm die Firma verkaufte, versprochen, ihm ein halbes Jahr lang hilfreich zur Seite zu stehen. Der neue Geschäftsführer war das genaue Gegenteil von Tero: ruhig und überlegt, ein typischer Mann von der finnischen Westküste. Ernst nickte er Tero zu.
Bevor einer von beiden etwas sagen konnte, stand Haaranen auf und blickte aus dem Fenster. »O nein.«
Tero schaute hinaus. Auf dem Parkplatz stieg ein großer, breitschultriger Mann mit langem Nackenhaar aus einem alten Ford Mondeo: Kimmo Leivo. Julias Vater. Sein Gesicht war grau.
»Was will der denn hier?«, fragte Tero überrascht. »Nach so einem Ereignis?« »Er ist vollkommen außer sich. Das Mädchen war sein Augenstern.« Haaranen ging zur Tür. »In so einer Situation denkt ein Mensch nicht vernünftig.«
Tero war unangenehm zumute. Er starrte nach draußen, wo Kimmo mit hängenden Schultern den Parkplatz überquerte. Er war ein schwieriger, jähzorniger Typ, das wussten alle, und ganz besonders gut wusste es Tero. Wenn er sich auch nur vorstellte, er hätte an Kimmos Stelle sein Kind durch ein Gewaltverbrechen verloren ... Entschlossen konzentrierte er sich darauf, alle Gedanken abzuwehren, die ihn dazu verleiten konnten, die Tragödie aus Kimmos Perspektive zu sehen. Nur so war er fähig, einigermaßen stabil zu bleiben.
Mit leicht zitternden Knien ging Tero in die Eingangshalle und sah, wie Haaranen eine Hand auf Kimmos Schulter legte.
Tero verlangsamte den Schritt und blieb stehen. Kimmo bemerkte ihn. »Tero, du bist auch hier. Ich hab dein Auto gesehen ...«
Tero ging auf Kimmo zu und umarmte ihn. »Es ist so schrecklich ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll...« Seine Stimme versagte, er musste husten. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, egal was ...«
Kimmo stand bis zu einem gewissen Grad noch immer unter Schock.
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