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Remember

Remember

Titel: Remember
Autoren: Roland Jungbluth
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Mutter gewesen wäre?« Sie zögerte kurz. »Aber dann, für einen kurzen Moment, dachte ich, was ist, wenn ich vielleicht doch verrückt bin und diese Leute wirklich meine Eltern sind? Es wäre die einfachste Erklärung, oder?«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte Eric. »Die waren wirklich gut. Meine haben auch geweint. Ganz großes Kino, ehrlich.«
    »Ja, genau wie bei mir«, pflichtete George ihnen bei und schüttelte den Kopf.
    »Annabel.« Michael beugte sich vor. »Wir müssen dich um etwas bitten. Es ist wirklich wichtig. Wir alle haben es schon getan.«
    »Was getan?« Annabel hatte schon wieder ein mieses Gefühl. Und ihr gefiel ganz und gar nicht, wie George und Eric sie auf einmal mit großen Augen anstarrten.
    »Hast du Geschwister?«
    Annabel schüttelte den Kopf.
    »Also gut, dann versuch jetzt einfach, an deine Eltern zu denken. Ich meine, erinnere dich daran, wie sie aussehen, wie du mit ihnen zusammen lebst, an euer Zuhause und so.«
    »Was soll ich?«
    »Bitte, versuch es einfach.«
    Annabel zögerte. »Also gut …« Sie konzentrierte sich. Sie schloss die Augen und dachte an das kleine Reihenhaus in der Church Road, in dem sie wohnten. An den hübschen Garten auf der Rückseite, an die beiden Apfelbäume und ihre alte Kinderschaukel auf dem Rasen. Sie dachte an letzte Weihnachten und das White Album der Beatlesunter dem Tannenbaum. Und an ihren fünfzehnten Geburtstag und den riesigen Strauß mit ihren Lieblingsblumen zwischen all den Geschenken. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie erinnerte sich nicht an ihre Eltern. Alles, was sie fand, war eine beängstigende Leere. Sie konnte sich weder ihr Aussehen, den Klang ihrer Stimmen noch ihren Geruch in Erinnerung rufen. Und selbst ihre Namen – ihre Namen waren einfach verschwunden.
    »Bitte, nicht…« Annabel vergrub das Gesicht in ihren Händen. Als sie wieder aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich kann mich nicht an meine Eltern erinnern.«
    »Keiner von uns kann das«, sagte George, doch es klang nicht so, als wollte er Annabel damit trösten. Er hatte eine Feststellung gemacht.
    »Aber wenn wir uns tatsächlich nicht an sie erinnern, wie können wir sicher sein, dass die, die uns besucht haben, tatsächlich Betrüger sind?« Eric sah in die Runde.
    »Das können wir nicht«, antwortete Michael. »Aber Annabel hat recht, wir sollten uns auf unser Gefühl verlassen. Und jede Faser in mir sagt, dass das nicht meine Eltern waren.«
    Annabel wollte gerade etwas erwidern, als ein Pfleger den Raum betrat. Er trug ein kleines Radio bei sich. Sofort setzte sie einen abwesenden Gesichtsausdruck auf und wiegte sich langsam hin und her. Nur auf das Summen und Sabbern verzichtete sie diesmal.
    Der Pfleger hatte schulterlange Haare, einen buschigen Bart und trug unter seinem offenen Kittel ein T-Shirt mit dem bunten Logo der Band Jethro Tull. Er suchte sich einen freien Tisch, stellte das Radio ab, dann machte er einen Kontrollgang durch den Raum.
    Die Stimme aus dem Radio ging Annabel auf die Nerven.
    »Wir erwarten nun gegen 15 Uhr 15 das Erdfluchtmanöver und um etwa 16 Uhr 45 die Abkoppelung der Kommandokapsel. Und wenn alles nach Plan verläuft, wird in neun Tagen der erste Mensch…«
    Annabel versuchte, die Stimme auszublenden. Sie spürte, wie der Schock langsam nachließ und nichts als Schrecken und Trauer zurückblieb. Warum konnte sie sich nicht an ihre Eltern erinnern? Was war bloß mit ihr geschehen?
    Sie atmete schwer, nur mühsam gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten.
    Michael beobachtete ihren inneren Kampf, er beugte sich vor und legte ihr ganz kurz die Hand auf die Schulter. Nur eine beiläufige Geste und niemand hatte sie bemerkt. Aber obwohl Annabel ihn kaum kannte, hatte es etwas ungeheuer Tröstliches an sich. Michael hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht alleine war, und das half etwas.
    Nachdem der Pfleger seine Runde beendet hatte, schnappte er sich sein Radio und wechselte den Sender. Nach einer kurzen Suche ertönte Thunderclap Newmans Something In The Air aus dem kleinen Lautsprecher. Der Mann hielt sich das Radio dicht ans Ohr, begann, lässig im Takt der Musik mit dem Kopf zu wippen, und schlenderte auf diese Weise zur Tür.
    Annabel blieb die ganze Zeit in ihrer Rolle und ihr Herz klopfte, weil sie fürchtete, der Mann könnte den Schwindel bemerken.
    Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie hörte, wie das Radio leiser wurde und schließlich ganz
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