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Remember

Remember

Titel: Remember
Autoren: Roland Jungbluth
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leise.
    Die Frau umkreiste sie langsam. Ihre nackten Füße erzeugten ein schmatzendes Geräusch auf dem Parkettboden. Als sie mit einer katzenhaften Geschmeidigkeit aus dem Stand auf den Tisch sprang und dort in einer hockenden Position verharrte, musste Annabel an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Ganz langsam, um die Frau nicht zu irritieren, erhob sie sich von ihrem Stuhl. Die anderen taten es ihr nach. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Pfleger auf die Situation aufmerksam wurde. Merkwürdigerweise verließ er den Raum.
    Bewegungslos hockte die Frau da. Ihr Gesicht war fast vollständig von herabhängenden Haaren verdeckt. Umso unheimlicher erschien ihnen das Flüstern, das aus ihrem Mund drang.
    »Sucht das Haus mit den gelben Fenstern!«
    »Oh nein, es redet«, presste Eric hervor.
    »Findet das Haus mit den gelben Fenstern!«
    Annabel starrte die Frau an.
    »Das Haus weiß die Fragen… kennt die Antworten. Findet die Tür… findet die Tür zum Paradies…«
    Annabel lief es kalt den Rücken herunter. Sie warf Michael einen kurzen Blick zu.
    »Vertraut niemandem! Sie lügen alle… Noch acht Tage.«
    Das Flüstern der Frau ging in einen monotonen Singsang über, während sie ihren Kopf langsam hin und her wiegte.
    In diesem Moment kam Schwester Shelley zusammen mit dem Pfleger in den Aufenthaltsraum gestürmt. Sie erfasste die Situation auf einen Blick und brachte sie unter Kontrolle.
    »Ist ja gut, April«, sagte sie beruhigend und näherte sich langsam der verwirrten Frau. »Sieht aus, als wär’s wieder Zeit für Ihre Pillen.« Die Schwester packte April am Arm und brachte sie dazu, vom Tisch zu steigen. »Ich hab dem Doktor gleich gesagt, es ist keine gute Idee, die Medikamente abzusetzen. Sie ist einfach noch nicht so weit.« Sie wandte sich an den Pfleger. »Bringen Sie Miss Fay wieder zurück in ihr Zimmer. Ich komme gleich nach.«
    Ohne Widerstand ließ sich die Frau vom Pfleger aus dem Raum führen.
    »Tut mir leid, wenn sie euch Angst gemacht hat.« Schwester Shelley hatte ihre schwarzen Locken heute zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie etwas jünger, aber auch strenger erscheinen ließ. »Das war April Fay. Sie ist schon seit ein paar Jahren hier. Eigentlich ist sie harmlos. Aber manchmal hakt bei ihr da oben etwas aus und sie redet wirres Zeug. Was hat sie euch denn erzählt?«
    »Ach, nichts Besonderes«, antwortete Annabel, ohne zu zögern, und wunderte sich selbst über ihren entspannten Tonfall. »Sie wollte nur immer wieder wissen, ob wir ihre Puppe gesehen haben.«
    »Ihre Puppe?« Schwester Shelley zog eine Augenbraue hoch.
    »Das haben wir sie auch gefragt. Aber dann hat sie nur noch vor sich hin gesummt.«
    Die Schwester schaute Annabel ein paar Sekunden an, doch die hielt ihrem Blick stand. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ahnte sie, dass Annabel nicht die Wahrheit sagte. Aber sie ließ es dabei bewenden.
    »Tja, in ein paar Minuten hat sie ihre Puppe sicher wieder vergessen. – Und was euch betrifft, denkt dran, dass ihr heute eure Termine bei Dr. Parker habt. Anschließend sind eine Reihe weiterer Untersuchungen dran. Ich schicke nachher jemanden, der euch abholt.«
    »Ach, Schwester?«
    »Ja, Eric?«
    »Wir haben uns gefragt, ob es möglich wäre, jemanden anzurufen. Ein paar Freunde. Einfach, um ihnen zu sagen, dass es uns gut geht, verstehen Sie?«
    Schwester Shelley lächelte. »Am besten erkundigt ihr euch bei Dr. Parker danach.«
    Damit drehte sie sich um und verschwand im Flur.
    »Gut gelogen, Rotlöckchen. Wirklich klasse!«
    Eric grinste ihr zu, doch Annabel fühlte sich überhaupt nicht klasse. Und Michael ging es offenbar ähnlich. Er hatte sich wieder auf seinen Stuhl fallen lassen und starrte apathisch vor sich hin.
    »Michael, alles in Ordnung?«
    »Habt ihr gehört, was sie gesagt hat?«
    Annabel hatte bereits befürchtet, dass Aprils Gerede von einer Tür zum Paradies Michael an seine Todestheorie erinnern würde. Aber sie hielt es für keine gute Idee, sich auch nur eine Sekunde lang darauf einzulassen. »Michael, das war nur eine arme Irre.« Sie hockte sich neben ihn und versuchte, eine harmlose Erklärung für das Geschehene zu finden, auch wenn es ihr schwerfiel. »Sie wusste nicht, wovon sie spricht. Du hast die Schwester doch gehört.«
    Michael reagierte nicht.
    »Michael, schau mich an!«, sagte sie. »Es hat keine Bedeutung. Das hat nichts mit uns zu tun. Verstehst du?«
    Michael hob den Kopf. »Vertraut niemandem. Sie lügen alle!«,
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