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Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)

Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)

Titel: Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)
Autoren: Florian Hottenrott
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laut, dass sie seine Hilferufe niemals gehört hätten.
    Es war nur ein einziger Augenblick, als der Anführer, den ich für bewusstlos hielt, ein Messer zog und es direkt in die Wade meines Bruders rammte. Er schrie auf und ließ das Gewehr fallen, was den anderen Mann dazu veranlasste, sein Gewehr in Position zu bringen und abzudrücken.
    Eine Wolke aus roter Farbe und viele Spritzer explodierten vor meinem Gesicht. Ich schloss in stinktiv die Augen, um kein Blut in mein Auge zu bekommen. Mein Atem beschleunigte sich.
     
     
     
     
    Die Geräusche aus den anderen Räumen ve rstummten plötzlich. Man hörte die Stiefel, die schwerfällig auf den Boden fielen. Aus den zwei anderen Zimmern kamen zwei Männer angerannt. Sie hatten die Gewehre in Position.
    „Scheiße!“, fluchte der Anführer wütend. Er hielt sich am Hinterkopf fest. „Warum hast du Idiot denn bitteschön abgedrückt?“
    Als wäre er ertappt worden, ließ er das Gewehr fallen, doch seines war an einer Schlaufe befestigt, die wiederum an seiner Weste befestigt war. „Er hat mich provoziert und dich umgehauen!“, rechtfertigte er sich.
    Der Anführer stand langsam auf. Wahrscheinlich war ihm schwindelig geworden durch den heftigen Aufprall seines Kopfes. Er verharrte einen Moment im Stand, stützte sich dabei aber auch an der Wand ab. „Du weißt, dass das keine Begründung ist!“
    „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich die Ministerien für einen solchen Fall interessieren werden“, sagte der Schuldige lachend. „Ich meine, dass hier sind arme Leute.“
    Der Anführer stapfte wütend auf seinen Kollegen zu und blieb direkt vor meinem Gesicht stehen. „Ich scheiße auf die Ministerien. Mir geht’s darum, dass du dich gerade nicht im Griff gehabt hast!“
    „Sorry“, sagte der Mann plötzlich reumütig.
    „Passiert so ein Scheiß noch mal, bist du raus! Ist das klar!?“, fragte der Anführer wütend.
    „Japp“, war die kurze Antwort. Damit schien se ine Schuld am Tod meines Bruders getilgt.
    Meine Mutter schien die Situation nicht zu b egreifen. Sie verharrte nach wie vor in ihrer Position und mit den aufgerissenen Augen.
     
     
     
     
    „Wir wollen die Armut soweit wie möglich b ekämpfen. Kein Mensch sollte in Armut leben müssen!“, verkündete die neue Präsidentin.
    Wer hätte gedacht, dass sie das wortwörtlich meint – die Bekämpfung der Armut. Dies war das oberste Ziel der neuen Regierung.
    Sie haben es fast erreicht.
     
     
     
     
    Ich hielt mir die Ohren zu. Das Geschrei der Ki nder, die entführt worden, konnte ich nicht mehr ertragen. Ich versuchte, es auszublenden.
    Ic h sah nur ein wenig über das Fensterbrett hinaus, beobachtete die Truppen, wie sie die kleinen Kinder aus den Wohnungen zerrten. Die Eltern folgten ihnen meist. Sie weinten, schrien, setzten sich zur Wehr, doch die Einheiten stießen sie erbarmungslos zurück.
    Es waren keine Soldaten, keine Polizisten. Ich vermute, dass es Leute von den berüchtigten pr ivaten Sicherheitsfirmen waren. Sie trugen Schutzwesten und Gewehre bei sich.
    Manchmal eskalierten die Situationen und es wurde das Feuer eröffnet. Aber wahrscheinlich war es für eine Mutter erträglicher, wenn sie ste rben konnte in solch einer Situation.
    Ein Mann hatte zwei kleine, weinende Kinder am Kragen gepackt. Er zerrte sie über die mit Staub bedeckte Straße, warf sie direkt in den gepanze rten Transporter. Zwei weitere Männer folgten ihrem Kameraden, deckten seinen Rücken und bedrohten die Eltern mit ihren Gewehren. Die folgten den drei Männern in respektvollem Abstand. Sie weinten, flehten sie an, ihre Kinder wiederzubekommen.
    Wo sie diese Kinder hinbringen werden? Ich weiß es nicht. Es gibt lediglich Gerüchte. Manche sagen, sie kommen zu reichen und unfruchtbaren Famil ien, andere sagen, dass man Experimente an ihnen durchführt.
    In jedem Fall wird sich ihr Leben verändern – zum Guten oder zum Schlechten.
    Ich konnte nur zusehen, aber ich spürte diese enorme Wut in mir, diesen Zorn. Könnte ich nur aufstehen, könnte ich sie nur bekämpfen, könnte ich nur dieses ganze System verändern.
    Es war so ungerecht.
    Man hörte die Kinder, sie schrien noch immer, riefen nach ihren Eltern, schlugen gegen die Innenwände des Transporters. Die drei Männer reagierten gar nicht darauf. Sie setzten sich in ihr Gefährt und fuhren davon. Lediglich eine Staubwolke blieb zurück.
    Die Mutter der beiden Kinder kniete auf dem Boden. Ihr Mann stand hinter ihr. Sie schlug auf den
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