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Reckless - Lebendige Schatten

Reckless - Lebendige Schatten

Titel: Reckless - Lebendige Schatten
Autoren: C Funke
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gesucht. In Lombardien drehte sich ein Karussell, das aus Kindern Erwachsene und aus Erwachsenen wieder Kinder machte, und in Varangia besaß ein Fürst eine Spieluhr, die einen, wenn man sie aufdrehte, in die eigene Vergangenheit zurückbrachte. Jacob hatte sich oft gefragt, ob das den Lauf der Dinge tatsächlich änderte, oder ob man am Ende doch nur wieder genauso handeln würde, wie man es schon einmal getan hatte: Sein Vater würde immer wieder durch den Spiegel gehen. Er würde ihm folgen und Will und seine Mutter blieben allein zurück.
    Himmel, Jacob! Die Aussicht auf den eigenen Tod machte sentimental.
    Es kam ihm vor, als hätte jemand sein Herz in den letzten Monaten wieder und wieder in die Schmelze geworfen wie einen Klumpen Metall, der einfach nicht die richtige Form annehmen wollte. Falls die Flasche sich als ebenso nutzlos erwies wie der Apfel und der Brunnen, war die Mühe umsonst gewesen, und er würde schon bald wie seine Mutter nur ein Foto in einem staubigen Silberrahmen sein. Jacob stellte ihr Foto auf den Nachttisch zurück und strich die Bettdecke glatt, als könnte seine Mutter im nächsten Moment ins Zimmer treten.
    Jemand schloss die Wohnungstür auf.
    »Jacob ist hier, Will.« Claras Stimme klang fast so vertraut wie die seines Bruders. »Da steht seine Tasche.«
    »Jake?« In Wills Stimme klang nichts mehr nach dem Stein, der ihm die Haut gefärbt hatte. »Wo steckst du?«
    Jacob hörte seinen Bruder den Flur herunterkommen, und für einen flüchtigen Moment stand er auf einem anderen Korridor, hinter sich Wills hassverzerrtes Gesicht. Es ist vorbei, Jacob. Nein, ganz würde es das nie sein, und das war gut so. Er wollte nicht vergessen, wie leicht er Will verlieren konnte.
    Und da stand er auch schon in der Tür, kein Gold in den Augen, die Haut weich wie seine, nur wesentlich blasser. Schließlich war Will nicht wie er wochenlang durch eine gottverdammte Wüste geritten.
    Er umarmte ihn fast so fest wie früher, wenn Jacob ihn auf dem Schulhof vor irgendeinem prügelwütigen Viertklässler gerettet hatte. Ja, es war den Preis wert, solange sein Bruder nur nichts von der Höhe der Bezahlung erfuhr.
    Wills Erinnerungen an seine Zeit hinter dem Spiegel waren wie Scherben, aus denen er vergeblich versuchte, ein Ganzes zusammenzusetzen. Schließlich lebte niemand gern mit dem Gefühl, dass er sich an entscheidende Wochen seines Lebens kaum erinnerte. Wenn Will Clara und ihm Gesichter oder Orte beschrieb, wurde Jacob stets aufs Neue bewusst, wie viel sein Bruder hinter dem Spiegel allein erlebt hatte. Es war fast, als hätte Will einen zweiten Schatten, der ihm wie ein Fremder folgte – und ihn ab und zu erschreckte.
    Jacob konnte es nicht erwarten, zurückzugehen, aber Clara bat ihn, zum Essen zu bleiben, und wer wusste schon, ob er sie und Will je wiedersehen würde. Also setzte er sich an den Küchentisch, in den er als Kind mit seinem ersten Messer seine Initialen geritzt hatte, und versuchte, so sorglos wie möglich zu erscheinen. Doch offenbar war ihm auch das Geschick abhandengekommen, seinem Bruder erfundene Geschichten als die Wahrheit zu verkaufen. Jacob fing sich mehrmals nachdenkliche Blicke von ihm ein, als er seinen Ausflug nach Chicago mit einem Fabrikanten aus Schwanstein und dessen Leidenschaft für Flaschengeister erklärte.
    Bei Fuchs hätte er es mit der Geschichte gar nicht erst versucht. Er war während ihrer endlosen Suche nach den falschen Dingen oft kurz davor gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, doch die Vorstellung, die eigene Angst auch auf ihrem Gesicht zu sehen, hatte ihn jedes Mal davon abgehalten. Er liebte Will, aber für ihn würde er zuallererst immer der ältere Bruder sein. Bei Fuchs war er einfach er selbst. Sie sah so viel von dem, was er vor anderen verbarg – auch wenn ihm das nicht immer gefiel und sie beide selten aussprachen, was sie voneinander wussten.
    »Kennst du einen Norebo Earlking, Will?«
    Sein Bruder runzelte die Stirn. »Ziemlich klein gewachsen? Mit einem seltsamen Akzent?«
    »Derselbe.«
    »Ma hat ihm einige von Großvaters Sachen verkauft, als sie Geld brauchte. Ich glaube, ihm gehören ein paar Antiquitätenläden hier und in Europa. Warum?«
    »Er hat mir aufgetragen, dich zu grüßen.«
    »Mich?« Will zuckte die Achseln. »Ma hat ihm nicht alles verkauft, was ihn interessierte. Vielleicht will er sein Glück nun bei uns versuchen. Er ist ein komischer Kauz. Ich war nie sicher, ob Ma ihn mag.« Will strich sich über den Arm. Er
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