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Rasant und Unwiderstehlich

Rasant und Unwiderstehlich

Titel: Rasant und Unwiderstehlich
Autoren: Cecily von Ziegesar
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Sie denn nie einen Tag frei?«
    Marymount strich sich sein spärliches Haar in Form und seufzte erschöpft. »Die Verwaltung dieser Schülerschaft ist ein Fulltime-Job, Miss Carmichael.« Er warf ihr einen langen, missbilligenden Blick zu. Auf seinem sonst so aufgeräumten Schreibtisch türmten sich unordentlich Berge von Akten und Schriftstücken. Die riesigen Erkerfenster hinter ihm boten einen exzellenten Blick auf den Campus von Waverly, und Tinsley fragte sich kurz, ob der Dekan das absichtlich so hatte einrichten lassen, damit er seine Schäflein von morgens bis abends wie ein Habicht beobachten konnte. Sie stellte sich vor, wie Marymount aus luftiger Höhe herabstieß und sich mit seinen garstigen Klauen einen arglosen Schüler griff, um dann mit gierigem Schnabel auf ihn einzuhacken.
    »Ich habe übrigens ein paar unserer Anwärterinnen und Anwärter kennengelernt«, log Tinsley, während sie versuchte, das Bild vom Dekan als Raubvogel abzuschütteln. Außerdem konnte ihr ein wenig Small Talk nützlich sein. Sie trat leicht nervös von einem Fuß auf den anderen. »Es sind anscheinend sehr geeignete Eulen.«
    »Perfektes Timing, was?«, klagte Marymount, warf seinen Cross-Füller auf seinen übertrieben großen, ledergefassten Schreibtischkalender und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Was meinen Sie, welchen Eindruck das macht, dass hier Brandstifter frei herumlaufen?«
    Tinsley wusste, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte, doch sie bot ihr genau das, wonach sie Ausschau gehalten hatte: den idealen Einstieg ins Thema. »Deswegen bin ich auch gekommen, Sir.« Sie machte einen kleinen Schritt nach vorn, auf den flauschigen türkischen Teppich, und versuchte, die Erinnerung an ihren letzten Auftritt hier zu verdrängen. Erst vor ein paar Tagen hatte sie ihren verehrten und seit vielen, vielen Jahren brav verheirateten Dekan Marymount gewissermaßen erpresst, der Party des Cineclubs auf der Miller-Farm zuzustimmen. Als kleines Druckmittel hatte ihr dabei gedient, dass der gute Marymount eine Affäre mit der ebenfalls seit vielen, vielen Jahren brav verheirateten Dumbarton-Hausaufsicht Angelica Pardee hatte. Ups. Marymount hatte der Party zwar zugestimmt, doch hatte er Tinsley auch deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie für alles, wirklich alles , was möglicherweise schiefgehen könnte, persönlich verantwortlich machte. Und es war ja tatsächlich etwas schiefgegangen. Schiefer hätte es gar nicht gehen können. Aber wenn Tinsley ihren Willen bekam, würde sie alles wieder zurechtrücken. Und sie bekam doch immer ihren Willen.
    Marymount schob sich vom Schreibtisch zurück und verschränkte die Finger über seinem Bauch. Die antike Uhr, die auf einem der Bücherregale in der Ecke stand, fing durchdringend zu bimmeln an. »Ich muss Sie wohl nicht an unsere letzte Besprechung erinnern, Miss Carmichael.«
    Tinsley schüttelte rasch den Kopf. Sie wusste, dass er keine Antwort erwartete, und sie wollte ihm auch nicht mit dem nervösen Gestammel kommen, auf das er lauerte. Stattdessen nahm sie den Silberrahmen ins Visier, der auf seinem Schreibtisch stand. Das Familienfoto war nach außen gedreht, als ob es Marymount nicht ertragen konnte, den ganzen Tag vom Bild seiner Frau angestarrt zu werden. Der Fotograf hatte wohl den kompletten Marymount-Clan abgelichtet, denn wie Tinsley jetzt bemerkte, drängten sich mindestens ein Dutzend Personen in den Rahmen. Eine davon musste wohl seine Nichte sein, denn die Kinder des Dekans waren längst im Collegealter. Das Mädchen trug einen Mittelscheitel und hatte einen pinkfarbenen Overall an. Die schwarze Brille umrahmte ein Paar ängstlicher blauer Augen. Keine Frage, das Mädchen benötigte dringend mal eine Generalüberholung.
    Dekan Marymount nahm seinen Füller zur Hand, als sei er bereit, jeden Moment den Rausschmiss von Tinsley Carmichael zu unterzeichnen. »Und ich nehme an, Sie sind gekommen, weil Sie wissen, wer das Feuer ausgelöst hat?«
    Tinsley sah hinunter auf die Kappe ihrer Miu-Miu-Spangenschuhe. Ein Fehler, wie sie noch im selben Moment feststellte. Wenn man hinab auf seine Schuhe sah, nahmen die Leute an, dass man log. Der einzige noch schlimmere Fehler war, sich an der Nase zu kratzen – das wusste jeder. Der Trick war vielmehr der, den Leuten direkt in die Augen zu schauen – oder zwischen die Augen. Sofort richtete Tinsley den Blick auf die borstigen graubraunen Haare zwischen Marymounts Augenbrauen. »Nicht direkt, Sir.
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