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Racheklingen

Racheklingen

Titel: Racheklingen
Autoren: Joe Abercrombie
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einen Augenblick mit ihr allein? Das geht ganz schnell.«
    Prinz Ario kicherte. »Schnelligkeit ist nicht immer etwas, worauf man stolz sein kann.«
    »Grundgütiger Himmel!« Orsos Stimme. »Wir sind keine Tiere. Werft sie von der Terrasse, und dann ist gut. Ich komme zu spät zum Frühstück.«
    Sie fühlte, wie sie weggeschleppt wurde und ihr Kopf wegsackte. Dann hob man sie an, und schlaffe Stiefel schrammten über Stein. Blauer Himmel drehte sich vor ihren Augen. Auf die Balustrade. Der Atem fuhr hart durch ihre Nase, erschauerte in ihrer Brust. Sie wehrte sich, trat um sich. Ihr Körper kämpfte vergebens darum, am Leben bleiben zu dürfen.
    »Lasst mich dafür sorgen, dass sie wirklich erledigt ist.« Ganmarks Stimme.
    »Wie erledigt denn noch?« Verschwommen sah sie durch das blutige Haar vor ihren Augen Orsos zerfurchtes Gesicht. »Ich hoffe, Sie verstehen. Mein Urgroßvater war ein Söldner. Ein Kämpfer niederer Herkunft, der die Macht durch seinen scharfen Verstand und sein scharfes Schwert erlangte. Ich kann es nicht riskieren, dass ein anderer Söldner die Macht über Talins an sich reißt.«
    Sie wollte ihm ins Gesicht spucken, aber es gelang ihr nur, Blut auf ihr eigenes Kinn zu sabbern. »Fick dich sel…«
    Dann flog sie.
    Ihr zerrissenes Hemd blähte sich auf und flatterte gegen ihre erschauernde Haut. Sie drehte sich wieder und wieder, und die Welt drehte sich um sie herum. Blauer Himmel mit kleinen Wölkchen, schwarze Türme auf der Bergspitze, graue Felswände, an denen sie vorüberflog, gelbgrüne Bäume und ein schäumender Fluss, blauer Himmel mit kleinen Wölkchen, und wieder und wieder und schneller und schneller.
    Kalter Wind riss an ihren Haaren, dröhnte in ihren Ohren, pfiff zwischen ihren Zähnen zusammen mit dem entsetzten Atem. Nun konnte sie jeden Baum sehen, jeden Ast, jedes Blatt. Sie sprangen ihr entgegen. Sie öffnete den Mund und wollte schreien …
    Zweige knackten, griffen, schlugen nach ihr. Ein abgebrochener Ast brachte sie ins Trudeln. Holz knackte und riss an ihr, als sie fiel, abwärts und noch weiter abwärts, bis sie schließlich gegen die Bergflanke prallte. Ihre Beine brachen unter ihrem eigenen Gewicht und ihre Schulter beim Aufschlag auf die harte Erde. Aber statt sich den Kopf auf den Felsen einzuschlagen, zertrümmerte sie nur ihren Kiefer an der blutigen Brust ihres Bruders. Sein Leichnam war zwischen ein paar Baumwurzeln verkeilt.
    Und so rettete Benna Murcatto seiner Schwester das Leben.
    Sie federte von dem toten Körper zurück, zu drei Vierteln bewusstlos, und rollte den steilen Abhang hinab, mit losen Gliedern wie eine Stoffpuppe. Steine und Wurzeln und harter Boden schlugen, prügelten, hieben auf sie ein, als ob sie mit hundert Hämmern zertrümmert würde.
    Sie stürzte durch ein Gebüsch, dessen Dornen sie kratzten und ihre Haut aufrissen. Und sie rollte weiter, weiter über die abschüssige Erde in einer Wolke von Staub und Blättern. Sie schabte über eine Baumwurzel, krümmte sich auf einem moosigen Stein zusammen. Schließlich blieb sie liegen, auf dem Rücken, und bewegte sich nicht mehr.
    »Huuuuurrrrhhh …«
    Steine rutschten nach, Stöckchen und Kies. Allmählich setzte sich der Staub. Sie hörte Wind, der in den Ästen ächzte und in den Blättern rauschte. Oder war es ihr eigener Atem, der in ihrer malträtierten Kehle rasselte? Die Sonne flackerte durch schwarzes Geäst und stach in ein Auge. Das andere war dunkel. Fliegen summten, sausten und schwammen in der warmen Morgenluft herum. Sie lag hier unten auf Orsos Küchenabfällen. Hilflos ausgestreckt auf verdorbenem Gemüse, schleimigen Essensresten und den stinkenden Innereien, die von den großartigen Gelagen des letzten Monats übrig geblieben waren. Mit dem Müll entsorgt.
    »Huuuurrhhh …«
    Ein abgehacktes, sinnloses Geräusch. Es war ihr beinahe peinlich, aber sie konnte nicht aufhören, es von sich zu geben. Tierisches Entsetzen. Verrückte Verzweiflung. Das Stöhnen der Toten in der Hölle. Ihr Auge fuhr verzweifelt von einer Seite zur anderen. Sie sah das Wrack ihrer rechten Hand, ein formloser, violetter Handschuh mit einem blutigen Schnitt an der Seite. Ein Finger zitterte ein wenig. Die Spitze berührte leicht die zerschrammte Haut ihres Ellenbogens. Der Unterarm war in der Hälfte umgeknickt, ein abgebrochener Zweig aus Knochen ragte aus blutiger Seide. Es sah nicht echt aus. Mehr wie eine billige Theaterrequisite.
    »Huurrhhh …«
    Jetzt packte sie die Angst und wurde mit
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