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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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um andere zu kümmern wie um sich selbst, dann war sie doch bedeutungslos.
    Sie kniff die Augen zu. Saffas Gesicht, hundertmal. Saffa, den sie schon so lange kannte wie sich selbst. Saffa, mit dem sie sich geprügelt hatte und dem sie ihre erste blutige Lippe und ihren ersten Kuss verdankte. Saffa, der siebenmal um ihre Hand angehalten hatte, seit sie neun waren, und dem sie sich genauso oft versprochen hatte wie Kajan. Saffa, der ihr Birnen schenkte und sie um ihren Anteil an der gestohlenen Beute betrog - Saffa, der sie in einen Misthaufen schubste und sich auf einen älteren Jungen stürzte, weil er Mion beleidigt hatte - Saffa, der sie liebte und dem sie egal war, der niemanden außer ihr gern hatte und der sie an die Sphinxe verraten hatte.
    Saffa, der ihr Leben für seins geopfert hatte. Ihr bester Freund, der an sich selbst gedacht hatte und nicht an sie.
    Hätte sie ihn doch hassen können! Aber sie war nur niedergeschmettert. So furchtbar niedergeschmettert, weil neben all ihren großen, dummen Träumen ihr größter - der Traum von Freundschaft in einer schlechten Welt - ebenfalls zerfallen war.
     
    War sie eingeschlafen? Mit klammen Fingern rieb Mion sich die Augen, verwundert, dass sie auf dem Boden lag. Als die Sphinxe gekommen waren, hatte sie weder ihren Wollumhang noch ihre Schuhe getragen, und sie fror erbärmlich. Ihre nackten Zehen waren taub vor Kälte.
    Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie geweckt hatte: Eisen quietschte, eine Tür fiel ins Schloss. Irgendwo näherten sich Schritte. Hastig kroch sie auf die Wand zu und zog sich hoch. Den Rücken an die kalten Steine gelehnt, fixierte sie die Kerkertür. Die Schritte waren jetzt ganz nah. Wenigstens klang es nicht nach Löwentatzen.
    Das spärliche Licht, das zuvor durch das Gitterfenster in der Tür gefallen war, verschwand mit einem Mal. Jemand stand vor ihrer Zelle. Sah sie an.
    »Heißt du Mion?«
    Für eine Weile versuchte sie, anhand der Stimme zu erahnen, wer ihr Besucher sein könnte. Aber auf mehr, als dass es ein Mann zwischen zwanzig und fünfzig sein musste, kam sie nicht.
    »Antworte«, befahl er ruhig.
    Mion fand endlich ihre Stimme. »J-ja.«
    »Du hast den Drachen erschossen?«
    »Ich habe nicht -«
    »Wieso hast du es getan?«
    Wenn es der Henker war, wieso fragte er sie so etwas? Es musste ein Diener der Drachen sein …
    Sie sammelte noch einmal ihren Mut. »Es war ein Versehen. Der Pfeil ging einfach los.«
    Irrte sie sich oder war da ein Lachen?
    »Lügen kannst du ja. Das gefällt mir. Wie denkst du von den Drachen?«
    Sie spitzte die Ohren. »Die Drachen?«, wiederholte sie heiser. »Ähm... mögen ihre Wege uns auch unergründlich scheinen, ihr Wort soll nicht angezweifelt, ihre Handlungen immer gutgeheißen werden. Mutter Schicksal hat Nachsicht mit den Menschen, weil sie fühlen, und Mutter Schicksal liebt die Drachen, weil sie verstehen -«
    »Ich habe dich nicht gebeten, mir die Sprüche aufzusagen, die sie euch eintrichtern. Ich will wissen, wie du von den Drachen denkst.«
    Ihre Unterlippe zitterte. Sie schluckte schwer. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Wenn sie doch bloß wüsste, was er hören wollte!
    »Herr... ich denke gar nichts über die Drachen. Ich weiß, das Denken ist die Tugend der Drachen. Die Tugend der Menschen... ist das Fühlen. Und ich fühle Dankbarkeit und Zuversicht, weil ich weiß, die Gerechtigkeit der Drachen ist unfehlbar. Selbst, selbst wenn wir Menschen sie nicht immer verstehen...« Ihre Worte faserten in Schweigen aus. Eine lange Stille trat ein, und Mion hatte das Gefühl, die Luft weiche aus dem Kerker.
    »Komm näher.«
    Sie gehorchte nicht gleich. Doch schließlich erlaubte ihre Lage es kaum, starrköpfig zu sein. Ihre Füße glitten über den Steinboden. Eine Armeslänge vor der Tür blieb sie stehen. Eisen rasselte. Dann wurde der Riegel zurückgeschoben. Mit einem Knirschen schwang die Tür auf und ein Schleier zittrigen Lichts fiel über sie.
    Der Mann schob sich in den Kerker, um keinen Schatten auf sie zu werfen. Sie konnte sein Gesicht noch immer nicht erkennen, doch der Fackelschein aus dem Gang umzeichnete seine aufrechte Gestalt. Er war groß. Bestimmt überragte er Mion um einen ganzen Kopf, obwohl sie nicht klein war. Ein Umhang lag ihm über den Schultern und ein graues Schaltuch war um seinen Hals gewickelt. Wirre dunkelblonde Haare glänzten im Licht.
    »Wie alt bist du?«
    »Ich bin fün... erst fünfzehn, Herr. Ein halbes Kind.« Sie versuchte, gewinnend zu
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