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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition)
Autoren: Stefan Slupetzky
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höchstwahrscheinlich Folgen eines Anpralltraumas.»
    «Hier am Rahmen …» Polivka geht in die Knie und inspiziert die Blutspur.
    «Dieser Schluss ist naheliegend.»
    «Welcher noch?»
    «Das wissen Sie doch, Herr Bezirksinspektor.»
    «Trotzdem möchte ich es auch von Ihnen hören – als Bestätigung.»
    «Der Mann ist auf dem Weg zur Tür gestolpert und gestürzt. Im Fallen hat er den Kopf gehoben und ist mit dem Gesicht frontal gegen den Türrahmen geprallt. Der Stoß war stark genug, ihm das Genick zu brechen. Exitus.»
    «Ein Unfall also?»
    Doktor Singh macht eine abwehrende Geste. «Mein Berufsprofil sieht keine kriminologischen Folgerungen vor. Nur anatomische.»
    «Dann sagen Sie mir bitte, wie man anatomisch reagiert, wenn man das Gleichgewicht verliert.»
    «Worauf wollen Sie hinaus?»
    «Man streckt die Arme vor», sagt Polivka, «und fängt sich mit den Händen ab.»
    «Das scheint er ja wohl nicht getan zu haben», stimmt der Doktor zu.
    «Ich frage mich, warum.»
    «Der Zweifel, Herr Bezirksinspektor, ist das Wartezimmer der Erkenntnis. Altes indisches Zitat. Sie können also warten, bis Sie aufgerufen werden, oder …»
    «Oder?»
    «Oder Sie behaupten, dass das hier ein Unfall war, und gehen nach Hause.»
    Polivka verfällt in Schweigen. Etwas irritiert ihn, aber nicht in seinem Kopf, sondern in seiner Hose: das Verdauungsfeuer.
    «Bin gleich wieder da, Herr Doktor.»
    Eilig durch die Schiebetür und in den Vorraum, dann ein kurzer Blick hinaus zum Bahnsteig, wo die Streifenpolizisten stehen. Sie haben Polivka bereits bemerkt und nehmen Haltung an. Der Magen drückt. Schon wieder einer dieser Winde, die sich seit Beginn seiner Diät zu regelrechten peristaltischen Orkanen auswachsen. Wenn man erst fünfzig ist , so hat der Vorgänger von Doktor Singh, der legendäre Professor Bernatzky ihm einmal geraten, soll man aufhören, seinen Fürzen zu vertrauen . Also ab in die Toilette, nur zur Sicherheit.
    Doch die Toilettentür ist zugesperrt.
    Wahrscheinlich Sparmaßnahmen, mutmaßt Polivka. Seit sich die Bundesbahnen auf dem – von der Europäischen Union geforderten und von den neoliberalen Kräften in der österreichischen Regierung durchgesetzten – Weg in die Privatisierung befinden, investieren sie eben lieber in milliardenschwere Bauprojekte als in Putztrupps oder Wartungspersonal. Mit jeder stillgelegten Spülung werden also ein paar Euro in die Geldspeicher der Bauwirtschaft gespült: ein weiterer Beweis dafür, dass es uns allen gut geht, wenn es nur der Wirtschaft gut geht.
    Außer, wir müssen aufs Klo.
    Polivka klopft und lauscht, er rüttelt an der Klinke. Kurzerhand greift er zu seinem Schlüsselbund, an dem nebst einem Taschenmesser und verschiedenen anderen Gerätschaften ein Vierkantschlüssel hängt. Ein kleiner Ruck, ein leiser Klick, und Polivka tritt ein.
    «Oh, Verzeihung!»
    Noch bevor ihm die Details des Bildes ins Bewusstsein dringen, weicht er auf den Gang zurück: Kaum etwas löst so heftige Reflexe im modernen Menschen aus wie eine unvermutete Begegnung auf der Toilette. Nach Sekunden erst beginnt er, das Gesehene zu reflektieren – und stürmt erneut in die Kabine.
    Auf der Klobrille sitzt eine Frau mit rötlich braunem Pagenkopf und starrt ihn an. Sie ist rund vierzig Jahre alt und trägt einen dezenten grauen Hosenanzug, gegen den die Turnschuhe an ihren Füßen seltsam stillos wirken. Doch der Grund für Polivkas rasante Rückkehr sind nicht ihre Schuhe, sondern das silberfarbene Klebeband, mit dem die Frau geknebelt und an den Toilettensitz gefesselt ist.

    «Wie heißen Sie?», fragt Polivka zum zweiten Mal.
    Mit Hilfe Doktor Singhs hat er die Frau aus dem Klosett befreit und in den vorderen Zugwaggon geführt. Erst dabei stellte sich heraus, wie groß sie war: ein Meter neunzig, schätzte Polivka; sie überragte ihn bei weitem. Die zwei Männer mussten sie so lange stützen, bis das Blut wieder in ihren Beinen zirkulierte. Dann, nachdem der Doktor eine kurze Untersuchung an ihr vorgenommen und sie – abgesehen von leichten Blutergüssen an den Handgelenken – für gesund befunden hatte, stellte Polivka zum ersten Mal die Frage. Antwort gab es keine.
    «Vielleicht ist sie durstig.» Doktor Singh nimmt eine Flasche Mineralwasser aus seinem schwarzen Arztkoffer, um sie der Frau zu reichen. Dankbar greift sie zu und trinkt mit einem Zug die halbe Flasche leer.
    «Wie heißen Sie? Ihr Name?»
    Endlich eine Reaktion. Die Frau sieht Polivka bedauernd an und zuckt die
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