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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Autoren: Bernhard Albrecht
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die offizielle Version.
    Wenn Ehefrau Inge da war, beobachtete Walles, dass die beiden nur wenig zärtlich miteinander waren. Welcher Natur war diese Beziehung?, fragte er sich. Aber es war für ihn tabu, kritische Fragen zu stellen. Er sah schließlich auch, dass sie in jeder freien Minute bei ihm war, und er spürte, dass Singh Inge brauchte. Wen sonst hatte er hier in diesem Land? Dank Hightech-Medizin würde der Inder möglicherweise bald wieder ein annähernd normales Leben führen können. Aber klarkommen damit müsste er allein, daran vermochten auch die Psychologen nichts zu ändern, die ihn regelmäßig besuchten und ihm attestierten, dass er »keine suizidalen Gedanken mehr« habe. Das glaubte Walles damals, denn auch ihm hatte Singh auf einen Zettel geschrieben, der Selbstmordversuch sei »die größte Dummheit meines Lebens« gewesen.

    Fünf Monate blieb Pavninder Singh nach seinem Selbstmordversuch im Krankenhaus. Am 27. April 2009 um acht Uhr bereiteten ihn die OP-Pfleger auf den Eingriff vor, der in die Medizingeschichte eingehen sollte. Singh lag auf der rechten Seite, Walles eröffnete seinen Rumpf vom Rücken her mit einem Brustkorbsperrer und konnte dann mit seinen Instrumenten direkt bis zur zerstörten Luftröhre vordringen. Die Operation selbst sei technisch für ihn keine große Herausforderung gewesen, sagt er später bescheiden. »Wie einen Fahrradschlauch flicken.«
    Neun Tage nach der Operation verließ Singh das Krankenhaus auf eigenen Beinen und »mit kräftiger Stimme«, wie der Arztbrief vermerkt. Der Abschied zwischen den zwei Männern, deren Leben sich durch diesen Eingriff verändern würde, war kurz, keiner von beiden erinnerte sich an seine Worte, beide aber sagten, dass die Stimmung sehr herzlich gewesen sei. Sie würden sich mehr als zwei Jahre nicht wiedersehen.
    Erst viele Monate später war die Entzündung in seinem Hals so weit abgeklungen, dass sich Bauchchirurgen daran wagen konnten, Singh auch eine neue Speiseröhre einzusetzen. Sie entnahmen ihm dafür ein Stück seines Dickdarms. Fast ein Jahr verstrich nach seinem Selbstmordversuch, bis er zum ersten Mal wieder essen konnte. Zunächst nur Suppe, aber es war ein Festmahl.

    An einem heißen Samstag im August 2009 fand Walles den Brief einer Aufsichtsbehörde zu Hause in seiner Post. Warum nur schrieb man ihn unter seiner Heimadresse an? Er setzte sich in Shorts auf den Balkon, wo Heike Zeitung las, öffnete den Umschlag, nahm noch einen Schluck Orangensaft – und verschluckte sich. Er habe gegen das Arzneimittelgesetz in seiner neuesten Fassung vom 22. Juli 2009 verstoßen, las er. Ihm drohten drei Jahre Gefängnis sowie der Entzug der Approbation. »Was ist das denn jetzt«, stammelte er und reichte Heike das Schreiben. Ein Wochenende in Angst begann.
    Erst am Montagmorgen griff Heike Mertsching zum Telefonhörer. Bald kannte sie die Hintergründe. Jemand hatte sie angezeigt. War dieser Mensch neidisch, fühlte er sich übergangen, hätte er gerne seinen Anteil am Erfolg gehabt? Es blieben nur sehr wenige Verdächtige übrig, die genug über ihre Forschungen wussten.
    Das neue Gesetz regelte erstmals, wie durch Tissue Engineering erzeugtes künstliches Gewebe zu betrachten sei: wie Medikamente. Man musste also viele Restriktionen für den Einsatz beachten. Walles und Mertsching hatten ihren Luftröhrenersatz immer als ein »medizintechnisches Produkt« betrachtet. Diese unterliegen weniger strengen Auflagen.
    Nach wenigen Tagen dann konnten beide erleichtert aufatmen. Die Aufsichtsbehörde stellte ihre Nachforschungen ein. Denn das Gesetz, gegen das ein Verstoß behauptet wurde, war erst gut drei Monate nach dem experimentellen Eingriff an Singh in Kraft getreten.
    Allerdings würde die nun europaweit geltende Regelung ihnen die Arbeit künftig schwermachen. Sie müssten ihr Verfahren komplett neu aufbauen und behördlich freigeben lassen. Auf absehbare Zeit, bis zur Erteilung einer »Herstellerlaubnis«, wäre es unmöglich, eine Studie mit vielen Probanden zu planen. Das könnte sich noch Jahre hinziehen.
    Im Herbst desselben Jahres noch heirateten sie, und Torsten Walles erlebte einen kometenhaften Aufstieg. Im Folgejahr errang er den höchstdotierten Preis der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Bald darauf erhielt er den Ruf an die Universität Würzburg – in drei Jahren vom Assistenzarzt zum Lehrstuhlinhaber für Thoraxchirurgie. Wieder gingen die beiden Wissenschaftler ihren Weg gemeinsam, Heike
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